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Panorama: Der Trick des Staatsanwalts

Der Sniper von Washington soll zehn Menschen ermordet haben. Er sagt, er sei unschuldig. Zunächst ist er nur in einem Fall angeklagt

Sonne, Wasser, Strand. Virginia Beach ist ein Urlaubsparadies. Mit rund 430000 Einwohnern ist es die größte Stadt des US-Bundesstaates Virginia. In jeder Saison hält sie dem Ansturm der Touristen stand. Vor einigen Wochen toste hier Hurrikan „Isabel“. Auch das haben die Menschen überstanden. Und jetzt, ganz außerhalb der Ferienzeit, strömen schon wieder lange Autokolonnen hierher. Die Hotelpreise sind in die Höhe geschnellt. Strandhäuser werden zu Traumpreisen vermietet. Gut 300 Journalisten aus dem ganzem Land und der ganzen Welt sind gekommen, um über den Prozessbeginn gegen den „Sniper“, den unheimlichen Heckenschützen John Allen Muhammad, zu berichten.

Zum Prozessbeginn plädierte der Abgeklagte am Dienstag auf nicht schuldig. Zunächst müssen die Geschworenen ausgewählt werden. Aus 120 Kandidaten müssen sich Richter, Kläger und Verteidigung auf zwölf Frauen und Männer einigen. Sie werden in sechs bis acht Wochen – so lange dauert das Verfahren – ihr Urteil fällen. Zunächst müssen sie die Frage beantworten, ob Muhammad schuldig oder unschuldig ist.

Falls sie den 42-jährigen Golfkriegsveteranen für schuldig befinden, müssen sie im zweiten Schritt das Strafmaß festlegen. Muhammad und der Jugendliche Lee Boyd Malvo sollen im Oktober vergangenen Jahres im Großraum von Washington zehn Menschen getötet haben.

Gegen Malvo wird im November in einem separaten Prozess in der Stadt Chesepeake verhandelt, nur wenige Kilometer von Virginia Beach entfernt. Die Staatsanwaltschaft hat für beide Angeklagten die Todesstrafe beantragt. Der Bundesstaat Virginia rangiert in der Todesstrafenstatistik gleich nach Texas auf Platz zwei. Hier dürfen auch Verbrecher hingerichtet werden, die zur Tatzeit minderjährig waren.

An der Schuld besteht kein Zweifel

Das Medieninteresse an dem Prozess ist riesig. An der Seite der zweispurigen Straße, die zu dem hochmodernen Gerichtsgebäude führt, blinkt schon mehrere hundert Meter zuvor ein elektronisches Warnschild auf: Zwischen dem 14. Oktober und dem 12. Dezember ist mit Verzögerungen und Staus zu rechnen. Die Reporter haben ihr Quartier in der benachbarten öffentlichen Bücherei aufgeschlagen. Dutzende von Übertragungswagen parken an der Seite. Alle anderen Verfahren, die in dem Gerichtsgebäude laufen, sind für die nächsten zwei Wochen ausgesetzt. Die Müllabfuhr muss bis um sieben Uhr morgens, also rechtzeitig vor dem täglichen Prozessbeginn, mit der Arbeit fertig sein. Für die „Washington Post“, der regionalen Marktführerin der Printmedien, ist eine umfangreiche Berichterstattung Ehrensache. Ihr Team hat sie in einem großen Strandhaus untergebracht, das noch dichter am Gericht liegt als die örtlichen Hotels. Jede Minute zählt.

Muhammad wurde bereits am vergangenen Sonnabend nach Virginia Beach verlegt. Um 9 Uhr 15 kam er an, wurde in seine Zelle gebracht und legte sich schlafen. Sowohl er als auch das Gerichtsgebäude werden rund um die Uhr bewacht. Durch einen unterirdischen Trakt wird der Angeklagte ins Gericht und zurück gebracht. Im Gefängnis, das überfüllt ist, darf er keinen Kontakt zu seinen Mithäftlingen haben. Gebaut wurde es für 590 Insassen, gegenwärtig beherbergt es 1300.

Für die meisten Amerikaner ist der Prozess kaum mehr als eine leidige Pflichtübung. An der Schuld der Angeklagten scheint nicht der geringste Zweifel zu bestehen. Sie wurden am 24. Oktober 2002 in den frühen Morgenstunden in ihrem blauen Chevrolet Caprice verhaftet. Anschließend hörten die Serienmorde auf. Der Wagen war zu einer Art rollendem Schießstand umgebaut worden.

Darin fand sich nicht nur die Waffe, mit der mehrere Opfer erschossen worden waren, eine „Bushmaster .223“, sondern auch ein Laptop mit detaillierten Informationen über die Tatorte sowie mögliche Fluchtwege. Außerdem gibt es Zeugen, die die mutmaßlichen Täter oder deren Auto in der Nähe von Tatorten gesehen haben wollen. Malvo schließlich hat gestanden, mehrere der Opfer eigenhändig erschossen zu haben.

Doch ganz so einfach ist die Beweisführung nicht. Niemand kann bezeugen, dass Muhammad je einen Menschen umgebracht hat. Er wurde weder bei einem Mord gefilmt noch beobachtet. Der Prozess gegen ihn beruht allein auf Indizien. Deshalb haben sich die Vertreter der Anklage für eine vorsichtige Strategie entschieden. Muhammad wird zunächst nur einer der Morde – begangen am 9. Oktober 2002 an einem 53-jährigen Mann – zur Last gelegt. Das lässt für den Fall, dass es wider Erwarten nicht zu einem Todesurteil kommt, die Option weiterer Anklagen offen. Außerdem berufen sie sich in ihrer Anklageschrift unter anderem auf das neue Anti-Terror-Gesetz. Das ermöglicht nach Auffassung der Staatsanwaltschaft die Verhängung der Todesstrafe auch dann, wenn nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, wer von den beiden Angeklagten jeweils den tödlichen Schuss abgefeuert hat.

Muhammad hat bislang zu allen Vorwürfen geschwiegen. Deshalb kann er – im Unterschied zu Malvo – nicht versuchen, Unzurechnungsfähigkeit geltend zu machen. Auch eine Unterhaltung mit einem Psychologen hat der Angeklagte verweigert. Der Richter, LeRoy F. Millette Jr., hat daraufhin alle Argumente der Verteidigung, die sich auf den Geisteszustand Muhammads beziehen, vom Verfahren ausgeschlossen.

Millette ist ein erfahrener Mann. Er hat 12 Jahre als Verteidiger, vier Jahre als Staatsanwalt und 13 Jahre als Richter gearbeitet. Seine größte Sorge war, dass aus dem Verfahren eine Show wie im O.J.-Simpson-Prozess wird. TV-Kameras hat er daher aus dem Gerichtssaal verbannt.

Und nur ein Bruchteil der Reporter findet auf den 54 Sitzen Platz. Allerdings wird das Verfahren per Standleitung in ein Nebengebäude übertragen. Dort kann es vom Rest der Medienvertreter und den Angehörigen der Opfer verfolgt werden. Virginia Beach hat sich gewappnet für den größten Prozess in der Geschichte der Stadt.

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