zum Hauptinhalt

Panorama: Im Namen der Ehre

Schwangere in der Türkei von Brüdern gesteinigt/Parlament schafft Strafminderung ab

Eine schwangere Frau wird von ihren Brüdern zu Tode gesteinigt, um die befleckte Familienehre zu reinigen – das kommt in Südostanatolien bis heute immer wieder vor. Doch als Semse Allak aus dem südosttürkischen Mardin jetzt beerdigt wurde, wurde sie nicht in einem namenlosen Grab verscharrt, wie das sonst bei den Opfern der so genannten Ehrenmorde üblich ist.

Aktivistinnen mit roten Nelken trugen die Frau zu Grabe und machten ihre Beerdigung zum Fanal gegen die frauenfeindliche Vorstellung von Familienehre. „Schluss mit den Ehrenmorden“, forderten die Frauen am offenen Grab. Fast zeitgleich schaffte das türkische Parlament die Strafminderung ab, die Ehrenmördern bisher gewährt wurde.

Das Schicksal von Semse Allak ist ein besonders scheußliches Beispiel für den gnadenlosen Ehrenkodex, dem in der Türkei jedes Jahr Dutzende junge Frauen geopfert werden. Die unverheiratete 35-Jährige war von einem Nachbarn geschwängert worden und hatte nach örtlichem Empfinden damit die Ehre ihrer Familie besudelt. Dass der Nachbar sie vergewaltigt hatte, spielte keine Rolle: In den Augen ihres Dorfes war Semse Allak „unrein“ geworden – damit waren auch alle männliche Angehörigen entehrt. Gereinigt werden kann die Familienehre nur durch die Tötung der „unreinen“ Frau; die Vollstreckung verkünden die Angehörigen, indem sie eine weiße Fahne hissen.

Erleichtert willigte Semse Allak deshalb ein, als ihr 55-jähriger Vergewaltiger sie zur Zweitfrau nahm – einem Vorschlag des Dorf-Imams folgend, der damit ihr Leben retten wollte. Ihren drei Brüdern reichte das aber nicht. Sie lauerten ihr auf und fielen mit Steinen und Messern über sie her. Ihr neuer Ehemann wich der Schwangeren nicht von der Seite und wurde erschlagen. Sein Tod sei aber nur ein Unfall gewesen, bedauerten die Brüder später. Semse Allak selbst blieb nach dem Überfall ebenfalls reglos liegen. Sie lebte noch, als eine Armeepatrouille sie fand; selbst ihr ungeborenes Kind war trotz eines Messerstiches in den Bauch noch am Leben. Vater und Brüder wurden zwar sofort festgenommen, doch umkreisten bald weitere männliche Verwandte das Krankenhaus, wo Semse Allak im Koma lag, um ihr den Todesstoß zu versetzen.

Doch ein Frauenzentrum in der Nachbarprovinz Diyarbakir – das einzige in Südostanatolien – machte den Fall publik und organisierte eine ständige Wache am Bett von Semse Allak. Acht Monate lang lag sie so im Koma. Retten konnten die Aktivistinnen die junge Frau und ihr Kind aber nicht mehr. Das Baby starb schon bald im Mutterleib, Semse Allak folgte vor zwei Wochen.

In einem anonymen Grab hätte die junge Frau nun verschwinden sollen, ihre Familie überließ die Leiche der behördlichen Bestattung in einem Armengrab. Doch statt dessen wurde ihre Beerdigung zu einer Demonstration gegen die Ehrenmorde. Dutzende südostanatolische Frauen gaben der Ermordeten das letzte Geleit, trugen den Sarg zum Grab und überhäuften ihn mit Blumen.

Einen Tag vor der Beerdigung schaffte das Parlament in Ankara auf Vorschlag der islamisch-konservativen Regierung und wegen der angestrebten EU-Mitgliedschaft die gesetzlichen Strafminderungen für Ehrenmorde ab. Bisher konnte Ehrenmördern ein Achtel ihrer Strafe erlassen werden. Die Brüder von Semse Allak sollen die letzten Mörder sein, die diesen „Ehrenbonus“ erhalten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false