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Nasim

© David Heerde

Junge Blogger: Der Blogger vom Hindukusch

Nasim lebt in Kabul – und was er dort erlebt, schreibt er auf seiner Internetseite

Jung sein heißt für meine Generation, schnell alt zu werden. Ich heiße Nasim Fekrat und komme aus Kabul in Afghanistan. Als ich geboren wurde, hielt die Sowjetunion Afghanistan besetzt. Als ich 13 war, erkämpften sich die Taliban die Macht. Ich bin ein Kind des Kriegs.

Ich habe sieben Geschwister, das ist für afghanische Verhältnisse nicht sehr viel. Meine Eltern sind Bauern, sie können weder lesen noch schreiben. Ich konnte mit neun in die Schule gehen, weil mein großer Bruder meinen Eltern bei der Arbeit half. Ich lief länger als eine Stunde dorthin. Mädchen durften nicht in die Schule gehen, deshalb unterrichtete ich meine Schwestern zu Hause.

Die Taliban hatten sich 1993 in Afghanistan formiert – eine Gruppe extremistischer Islamisten. Im folgenden Bürgerkrieg mussten viele meiner Freunde kämpfen. Ich habe einige von ihnen im Krieg verloren, aber ich selbst hatte Glück. Einmal wurde ich krank und brauchte einen Arzt. Ich ging von unserem Dorf nach Kabul, allein und zu Fuß, es dauerte mehrere Tage. Dort traf ich meinen älteren Bruder wieder und konnte bei ihm wohnen. Nachts musste ich Wache vor dem Haus halten. Wenn sich etwas bewegte, musste ich fragen „wer sind Sie?“, und wenn keiner antwortete, musste ich schießen. Einmal erschoss ich einen Hund. Menschen habe ich nicht getötet.

Während des Kriegs gab es keine Schulen, aber hin und wieder besuchte ich Privatkurse. Als ich einmal mit Freunden auf dem Weg dorthin war, hielt ein Auto der Taliban neben uns. Wir hatten lange Haare, und sie zwangen uns, sie abzuschneiden. Wir sahen manchmal, wie Taliban Frauen schlugen, weil sie allein auf der Straße unterwegs waren. Wir sahen auch Bomben neben uns einschlagen und Menschen neben uns sterben. Für uns war das Alltag.

Damals hatten meine Eltern kein Telefon, und als ich in Kabul war, hatte ich jahrelang keinen Kontakt zu ihnen. Als ich mit 15 nach Pakistan floh, besuchte ich sie das letzte Mal. Elf andere Jugendliche und ich überquerten illegal die Grenze. Ich arbeitete in Pakistan und später auch im Iran und den Arabischen Emiraten als Putzmann und in der Wäscherei. Nebenher lernte ich aus geliehenen Büchern Englisch.

Dann kam der 11. September 2001. An diesem Tag starben viele Menschen, aber für die junge Generation in Afghanistan begann ein neues Leben. Die Taliban wurden vertrieben, und sechs Monate nach dem 11. September kehrte ich nach Kabul zurück, ich war 19. Die Stadt war plötzlich ein anderer Ort: Die Leute tanzten auf der Straße, überall hörte man Musik, wir spielten Fußball. Das Leben war viel bunter geworden. Wir durften wählen, ich fing an zu fotografieren und zu bloggen – ich war einer der ersten Blogger in Afghanistan.

Heute lebe ich in einem gemieteten Zimmer. Viele meiner Freunde wohnen in WGs, weil es billiger ist. Sie teilen sich oft ein Zimmer. Warmes Wasser gibt es in Kabul nicht, wir benutzen öffentliche Duschen. Vier Stunden am Tag haben wir Strom. Wenn ich sonst Strom brauche, nehme ich eine Autobatterie.

Für Jugendliche hier ist das Internet sehr wichtig. Überall gibt es Internet-Cafés, viele bloggen und chatten mit Leuten aus aller Welt. Wir wollen erzählen, wie das Leben hier für uns ist. Manchmal werden wir nach Mädchen gefragt. Ich hatte noch nie eine Freundin. Um eine Beziehung zu führen, muss man verheiratet sein. Normalerweise heiraten die Leute sehr früh, mit 14 oder 15. Meine Nachbarn denken, ich sei komisch, weil ich mit 26 noch keine Frau habe. Ich könnte kein Mädchen einfach so zu mir nach Hause einladen. Man würde sich erzählen, sie sei eine Prostituierte.

Wenn ich gerne ein Mädchen kennenlernen würde, müsste ich mich langsam an sie herantasten. Ich würde ihr monatelang folgen oder jeden Tag an derselben Ecke auf sie warten. Irgendwann würde ich sie dann sehr freundlich und zurückhaltend grüßen. Beim nächsten Mal würde sich vielleicht die Gelegenheit ergeben, ihr zu sagen, dass ich sie liebe. Und dann könnte es wieder Monate dauern, bis sie mir antwortet, vielleicht mit einem kleinen Zettel. Das ist alles nicht so einfach hier!

Für Mädchen ist das Leben hier ohnehin anders als in Europa. Sie dürfen wieder zur Schule und in die Universität gehen, aber sie dürfen einen Jungen nicht einfach ansprechen. Die meisten Mädchen und Frauen tragen immer noch die Burka. Aber das wird weniger, vor allem unter Studentinnen. Auf der Straße sind Mädchen oft nur in Begleitung unterwegs. Sie fahren auch kein Fahrrad, obwohl Kabul eine Fahrradstadt ist. Und wenn ich mich mit Freunden treffe, sind nie Mädchen dabei.

Einmal in der Woche lade ich Freunde zu mir nach Hause ein. Wir spielen Gitarre, wir singen und tanzen. Und wir hören auch Musik. Indische Musik oder afghanische Sänger – Bands gibt es hier nicht, nur Sänger. International kenne ich nicht so viel, nur „Queen“ mag ich sehr gern. Wir trinken manchmal auch Alkohol, wenn wir uns treffen. Der ist eigentlich verboten, aber man bekommt ihn an jeder Ecke. Bars oder Kneipen gibt es hier aber nicht.

Ein großes Problem ist, dass die Menschen viele Drogen nehmen. Afghanistan ist eines der größten Opium-Anbauländer der Welt. Heroin entsteht aus der Weiterverarbeitung von Opium, und viele Menschen hier sind heroinabhängig. Heroin ist hierzulande einfacher zu bekommen als Alkohol.

Viele meiner Freunde gehen gern ins Kino, die Vorstellungen sind hier immer ausverkauft. Die meisten Menschen lieben Bollywood-Filme aus Indien. Viele verstehen die Sprache ein bisschen, deswegen muss man die Filme nicht übersetzen. Die Leute singen und schreien und tanzen dann. Ich selbst gehe nicht so gern ins Kino, mir ist das zu laut dort. Aber ich schaue gerne DVDs oder Filme im Internet. Ich glaube, ich kenne keine Filme aus Deutschland, auch Hollywood-Filme kenne ich nicht viele. Die einzige Serie, die übersetzt bei uns gelaufen ist, ist „24“. Sehr spannend.

Sehr populär ist neuerdings auch Taekwondo. Bei Olympia 2008 in Peking hat ein Afghane die Bronzemedaille im Taekwondo gewonnen, die erste olympische Medaille überhaupt für Afghanistan. Seitdem ist hier das Sportfieber ausgebrochen. Alle machen Kampfsport, an jeder Ecke gibt es Box-Clubs. Die meisten spielen außerdem Fußball, weil das so einfach ist. Ein Ball, und fertig.

Viele meiner Freunde wollen weg aus Kabul, weg aus Afghanistan, und etwas von der Welt sehen. Aber es ist sehr schwer, Visa für andere Länder zu bekommen. Auch für mich war es nicht einfach, für einen Foto-Workshop nach Deutschland zu reisen. Mittlerweile kann ich mir vorstellen, dass Kabul für euch nicht so verlockend klingt. Natürlich muss sich hier noch viel verändern. Aber seit der Krieg in Kabul vorbei ist, ist es für mich das Paradies.

Nasim hat für seine Blogs und Fotos mehrere internationale Preise gewonnen, seine Arbeit findet man im Internet unter www.afghanlord.org und www.fekrat.org. Aufgezeichnet von Patricia Hecht

Nasim Fekrat

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