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Panorama: Nukleare Kapseln

Als die Medikamente nicht mehr gegen ihre geschwollene Schilddrüse halfen, stand sie vor der Wahl: Operation oder Bestrahlung mit radioaktivem Jod. Die Patientin entschied sich für letzteres. Zwölf Tage musste sie in Quarantäne, durfte keinen Besuch empfangen. Heute geht es ihr besser

Es erwischte Marina Wegner schlagartig, beim Kistenstapeln im Supermarkt: Plötzlich überkam die 46-Jährige Verkäuferin ein Zittern am ganzen Körper, der Kreislauf klappte zusammen. Ihr Mann musste sie abholen. Schwächeanfall. Ist bestimmt bald vorbei, dachte sie. Am nächsten Tag wurde es aber nicht besser. „Das Herzrasen war das schlimmste“, erinnert sich die Lichtenbergerin an das Jahr 2006.

Marina Wegner ging zu ihrer Hausärztin. Am Ende der Untersuchungen stand die Diagnose fest: Überfunktion der Schilddrüse. Das Organ ist mit überaktiven Arealen – „heißen Knoten“ – regelrecht durchzogen. Sie bekam Medikamente, die die Symptome linderten. Denn ihr Organismus war durch das zuviel produzierte Schilddrüsenhormon völlig aus dem Gleichgewicht. In sieben Wochen nahm sie 15 Kilo ab, ungewollt. Asthmaattacken plagten sie, lang anhaltender Durchfall, die rechte Seite der Schilddrüse schwoll sichtbar an.

Es war klar: Die Medikamente konnten nur eine Überbrückung sein. Es musste mehr getan werden. Die Alternativen hießen Operation oder Therapie mit radioaktivem Jod. Marina Wegner wählte letzteres. „Die Narbe am Hals nach der OP wäre mir egal, aber ich vertrage Narkosen so schlecht.“ Im Juni 2008 unterzieht sie sich in der Nuklearmedizin im Virchow-Klinikum der Behandlung.

Die Idee hinter der Radiojod-Therapie ist simpel: Die Schilddrüse ist das einzige Organ im Körper, das Jod speichert, um daraus die für viele Stoffwechselvorgänge wichtigen Schilddrüsenhormone zu bilden. Wird nun radioaktives Jod von außen zugeführt, dann sammelt es sich nur in dem Organ an und entfaltet dort seine zerstörerische Wirkung auf die Knoten im Gewebe, die einerseits für die Vergrößerung der Schilddrüse verantwortlich sind, vor allem aber für die Überproduktion an Hormonen. Der Rest des Organismus bleibt fast unbelastet von der Radioaktivität.

Die von dem Jodisotop abgegebene Strahlung löst eine Entzündung in den überaktiven, vergrößerten Arealen der Schilddrüse – also den heißen und warmen Knoten – aus. Anschließend vernarbt das Gewebe und bildet sich zurück – so die Theorie. In der Praxis funktioniere das gut, sagt Helga Bertram, Oberärztin an der Nuklearmedizin des Virchow-Klinikums. Bei den meisten Patienten bilde sich nach der Behandlung die vergrößerte Schilddrüse zurück. „Bei etwa zehn Prozent der Kranken ist eine zweite Therapie nötig.“

Die therapeutisch wirksame Strahlung reiche nur 0,5 bis maximal zwei Millimeter in das umgebende Gewebe, sagt Bertram. „Die Reststrahlung auf den gesamten Körpers liegt in dem Bereich einer diagnostischen Röntgenuntersuchung“, beruhigt Bertram die skeptischen Patienten. Davon gibt es einige. Die Liste der Horroszenarien ist bei manchem lang: im „Strahlenbunker“ eingesperrt zu werden zum Beispiel, hinter vergitterten Fenstern. Oder der Kontakt mit Ärzten und Pflegern, die sich wie die Raumfahrer vermummen müssen.

Auch wenn das übertrieben ist, so sind die Strahlenschutzstandards doch hoch. Das macht es schwer für die Ärzte, einerseits die Ungefährlichkeit der Behandlung zu vermitteln, und andererseits solche Sicherheitsvorkehrungen zu erklären: Die Station im Charité Virchow-Klinikum ist durch eine große Glasscheibe vom Rest des Gebäudes abgetrennt. Die gläserne Tür zum Kontrollbereich muss immer geschlossen sein. Das Personal trägt Hand- und Gummischuhe. Vor jedem Verlassen der Station stellen sich Pfleger und Ärzte auf ein Messgerät, dass einer Bahnhofswaage ähnelt und stecken die Hände in zwei Öffnungen vor ihnen, um eine Strahlenlast zu bestimmen. Wenn Ärzte oder Schwestern ein Krankenzimmer betreten, bleiben sie hinter einem Bleischirm, der auf einem fahrbaren, etwa 1,30 Meter hohen Gestell befestigt ist. Das Schwermetall schützt die Körpermitte und die Keimdrüsen gegen die vom Patienten ausgehende Strahlung.

Sämtliche Abwässer aus den Patientenzimmern müssen in riesigen Tanks auf dem Klinikgelände über 50 Tage zwischengelagert werden, damit die Strahlung abklingen kann. Erst danach dürfen sie in die Kanalisation.

Der Grund für den immensen – und teuren – Aufwand ist eines der strengsten Strahlenschutzgesetze weltweit. „Das zugrunde liegende Atomgesetz stammt aus dem Jahr 1952 und wurde seit dem nie angepasst“, sagt Gunnar Hille, Oberarzt an der Nuklearmedizin am Vivantes-Klinikum Neukölln. In Belgien, Großbritannien oder der Schweiz werde die Behandlung mit radioaktivem Jod ambulant durchgeführt. „Der Patient muss lediglich drei Tage zu Hause bleiben“, sagt Hille.

In Deutschland kommen selbst die Medikamente statt im simplen Plastikblister in einem Bleimantel. Die Kapsel mit dem radioaktiven Jod wird in einem kleinen Bleifläschchen angeliefert. Es ist groß wie ein Parfum-Flakon, aber schwer wie ein Drei-Liter-Eimer. Die Kapsel zu berühren, ist verboten. Die Schwester entnimmt sie mit einer Plastikpipette und legt sie dem Patienten auf die Zunge. Der muss schlucken.

Während der gesamten Behandlung bleiben die Patienten auf der Station in Quarantäne. Jedes der 14 Zimmer der Nuklearmedizin ist rund 20 Quadratmeter groß. Die Zimmer sind eher spartanisch eingerichtet: Bett, Stuhl, Fernseher.

Die Kranken dürfen nur das Allernötigste mitbringen: Hygieneartikel und Bücher etwa, um die Langeweile zu überbrücken. Eventuell auch einen Laptop – den man aber nur mit Handschuhen benutzen sollte, „damit die Tastatur nicht kontaminiert wird“, sagt Bertram. „Sonst könnte es ein, dass wir das Gerät nach der Therapie eine Weile einlagern müssen, bis die Kontamination abgeklungen ist.“

Den Rest, Bettwäsche, Handtücher, Bademäntel und so weiter, stellt die Klinik. Nicht gerade Haute Couture, aber ausreichend für den Aufenthalt – Besuch darf man hier ohnehin nicht empfangen.

Und unter freiem Himmel spazieren gehen auch nicht. Schließlich ist man eine Strahlenquelle. Berlin ist da noch etwas strenger, als andere Bundesländer. Dort dürfen die Patienten zum Beispiel im – abgetrennten – Garten herumlaufen. Im Virchow-Klinikum dürfen sie nicht einmal über den Flur spazieren.

Der Zeitpunkt der Entlassung aus dem Krankenhaus hängt weniger vom Behandlungserfolg ab – frühestens nach vier Wochen ist erkennbar, ob die Knoten sich zurückbilden – als vielmehr von der Strahlenbelastung der Umgebung durch den Radiojod-Patienten. Faustregel: Wenn der Grenzwert unterschritten ist, darf man gehen. Das kann zwischen drei Tage und zwei Wochen dauern.

Bei Marina Wegner hat es zwölf Tage gedauert. Sie ist jetzt seit vier Wochen entlassen. Die Tabletten zur Linderung der Symptome der überaktiven Schilddrüse nimmt sie nicht mehr. Manchmal hat sie wieder das Herzrasen, die innerliche Unruhe. „So schlimm wie vor zwei Jahren ist es aber nicht“, sagt sie. Jetzt muss sie warten, ob es noch besser wird.

In drei Berliner Kliniken wird die Radiojod-Therapie durchgeführt: Charité Campus Virchow-Klinikum Strahlenheilkunde, Telefon 030/4505 573 38 (Wartezeit bis Therapiebeginn: ca. 6-8 Wochen); Helios Klinikum Berlin Buch Nuklearmedizin, Telefon: 030/940 1 53 420 (Wartezeit: ca. 4-6 Wochen), Vivantes Klinikum Neukölln Nuklearmedizin, Telefon: 030/130 14 2082 (Wartezeit: ca. 4 Wochen)

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