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Piraten Prozess: Für ein paar hundert Dollar

In Hamburg versucht das Landgericht in einem endlosen Prozess gegen zehn Somalier zu erfahren, was sie angetrieben hat. Lange tappt es im Dunkeln. Bis es einem der Angeklagten zu bunt wird.

Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, die schwere Holztür springt auf, und neun Männer werden nacheinander in den Saal 337 des Hamburger Landgerichts geführt. Sie haben die Köpfe gesenkt, sie kennen das alles schon, den schmucklosen Saal, die vielen Tische, an denen sie als Angeklagte Platz nehmen werden und an denen ihre Verteidiger bereits auf sie warten. An 77 Verhandlungstagen zuvor haben sie es nicht anders erlebt. Doch diesmal wirken sie ernster, angespannter.

Einer folgt den anderen Männern mit einigem Abstand. Er wird von zwei Justizvollzugsbeamten bewacht. Sie eskortieren ihn. Abdul Khalief-Diir heißt der schmale Mann, auf dessen Schutz das Gericht heute besonders achtet. Er hat dem Vorsitzenden Richter aus dem Gefängnis einen Brief geschickt und darin eine umfassende Aussage angekündigt.

Seit November 2010 verhandelt das Landgericht Hamburg wegen des Angriffs auf das deutsche Containerschiff Taipan. Die Anklage wirft zehn Somaliern einen „Angriff auf den Seeverkehr in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub“ vor. Es ist die Rechtsformel, in die man in Hamburg den Umstand der Piraterie verpackt. Zum ersten Mal stehen damit mutmaßliche Seeräuber in der Bundesrepublik vor Gericht, und es muss nun klären, wie die Tat geschah, wer sie beging. Gab es einen Plan? Was waren die Motive? Und wer führte die Gruppe an? Bis zu diesem Tag im April sah es so aus, als könnte die Große Strafkammer 3 nur wenig über die Hintergründe der Tat herausfinden. Khalief-Diirs angekündigtes Geständnis wirft den Prozessverlauf um.

Denn das komplizierte Verfahren hatte sich eigentlich dem Ende zugeneigt. Im Frühjahr 2012 hatte der Vorsitzende Richter die Beweisaufnahme geschlossen. Es sollte endlich zu Ende gehen, womit sich drei Richter, ihr Stellvertreter, die beiden Schöffen und deren Ersatzleute, 20 Verteidiger und zwei Ankläger nun schon eineinhalb Jahre beschäftigten. Die Staatsanwältin plädierte, forderte für die Angeklagten zusammen 81 Jahre Haft. Die ersten beiden Rechtsanwälte hielten ihre Plädoyers. Sie hielten dem Gericht vor, kein faires Urteil fällen zu können. Ihr Mandant sei in Haft ergraut und bereits vor dem Überfall schwer depressiv gewesen.

Mehrere Angeklagte hatten bereits gestanden, an dem Überfall beteiligt gewesen zu sein. Armut und Hunger nannten einige der geständigen Männer als Grund, warum sie zu Piraten wurden. Einige gaben an, Schulden zu haben und eine Familie ernähren zu müssen. Zwei Angeklagte sagten, sie seien zwangsrekrutiert worden. Ein weiterer Mann, dass er am Überfall teilnahm, um seinen von Gläubigern entführten Sohn freizubekommen. So hatte Aden Abdi, Jahrgang 1962, kräftige Statur und fast kahler Schädel, ausgesagt, zur Attacke auf das Containerschiff von seinen Mitpiraten gezwungen worden zu sein. Mit vorgehaltener Waffe hätten sie ihn genötigt, eines der Boote zu steuern, mit denen die Seeräuber die Taipan attackierten. Vorher sei er wie ein Gefangener behandelt worden.

Wie geschah die Tat?

Da reichte es Khalief-Diir. Er habe genug Märchen im Gerichtssaal gehört, die Wahrheit müsse endlich auf den Tisch, sagte er.

Deshalb also die Sonderbewachung und das Misstrauen der anderen Männer, mit denen er, Khalief-Diir, geboren 1983, in einem Boot gesessen hatte bei dem Überfall. Von dem berichtet er jetzt. Davon, wie die Gruppe am frühen Morgen des 5. April 2010 weit draußen auf dem Indischen Ozean ihr Ziel, die Taipan, auserkor, rund 530 Kilometer vor der somalischen Küste und gut 6000 Kilometer vom Sievekingplatz entfernt, an dem das Landgericht seinen Sitz hat. Dort sagt Khalief-Diir jetzt, alle hätten freiwillig an dem Angriff teilgenommen. Seine Kameraden, die behaupten, gezwungen worden zu sein, hätten in Wahrheit besondere Motivation gezeigt. Einer von ihnen habe eine Panzerfaust getragen.

Khalief-Diir spricht so schnell, dass der Dolmetscher Schwierigkeiten hat, seine Sätze aus dem Hochsomalischen ins Deutsche und bei Rückfragen wieder in Khalief-Diirs Muttersprache zurückzuübersetzen. Die Angeklagten, die normalerweise große schwarze Kopfhörer tragen, um das Geschehen in dieser fremden Welt zu verfolgen, brauchen sie an diesem Morgen kaum. Sie verstehen auch so, wie Khalief-Diir zwei von ihnen eine hervorgehobene Rolle zuschreibt. Er nennt die beiden Steuerleute der Skiffs als Anführer, einer von ihnen: Aden Abdi. Der andere sei Ahmet Mohammed gewesen, der von Dagaweene, dem Chef der Piratenbande, zum Anführer des Angriffs ernannt worden sei.

Sie, die in den Reihen vor Khalief-Diir sitzen, drehen sich zu ihrem Mitangeklagten um, der von ganz hinten aus spricht. Ihre Gesichter verraten, was sie nun von ihm halten.

Es war ein Angriff, wie er seit Jahren beinahe jeden Tag in der Region geschieht. Kriegsschiffe von Nato und EU sowie anderer Staaten versuchen seit 2008 vergeblich, den Seeraub vor der somalischen Küste und im Golf von Aden zu stoppen. Die Piraten aber haben ihr Operationsgebiet ausgeweitet, sie schlagen nun auch weit auf dem Indischen Ozean zu, nutzen sogenannte Mutterschiffe als schwimmende Basen, es sind zuvor bereits entführte Fischerboote und kleine Handelsschiffe.

Auch die Angeklagten in Hamburg sollen an jenem Ostermontag 2010 von einem Mutterschiff aus losgeschlagen haben. Von der entführten Dhau Hud Hud aus ließen sie zwei Motorboote, kleine Skiffs, zu Wasser und rasten auf die Taipan zu. Das Schiff gehört der Hamburger Reederei Komrowski. Zu der Besatzung zählten zwei Deutsche.

An Bord des Containerschiffs entdeckte man die Angreifer, wie diese in ihren Booten auf ihr Ziel zurasten, und setzte einen Hilferuf ab. Dann flohen die Seeleute in einen gesicherten Raum, die sogenannte Zitadelle, bevor die Seeräuber die Taipan enterten. Die Piraten versuchten, das Schiff nach Somalia zu steuern. Der Kapitän unterbrach daraufhin die Energieversorgung. So trieb das Schiff steuerungslos vor sich hin, bis die niederländische Fregatte Tromp nach einigen Stunden den Ort des Überfalls erreichte. Vom Bordhubschrauber des Kriegsschiffes seilten sich Elitesoldaten ab, die nach einem kurzen Feuergefecht die Piraten festnahmen und die Besatzung des Containerschiffs aus ihrem Zufluchtsort befreiten. Die Angreifer wurden in die Niederlande gebracht und von dort aus an Deutschland überstellt, weil die Taipan unter deutscher Flagge fuhr.

Jetzt behauptet Khalief-Diir, lediglich als Dolmetscher an dem Angriff teilgenommen zu haben. Er will mit einer ungeladenen Pistole an Bord geklettert sein – den anderen voran. Er habe mitgemacht, weil er sich Geld geliehen hatte. Die Piraten hätten gesagt, um die Summe abzuzahlen, müsse er nach dem Entern dolmetschen. Khalief-Diir berichtet zudem, dass vor der Attacke die Aufteilung der Beute in Verträgen geregelt worden sei. Jedem sei klar gewesen, dass es um Geiseln ging. Den Seeleuten hätte auf keinen Fall etwas geschehen dürfen. Piraten, die eine Geisel verletzen oder gar töten, drohten die Hintermänner drakonische Strafen an.

In der modernen Piraterie sind Geiseln das Kapital

Im modernen Piraterie-Business sind die Geiseln das Kapital. Die Seeräuber interessieren sich nicht für die Ladung, gegen deren Verlust Reeder versichert sind, sie verschleppen Schiffe und Besatzung und erpressen Lösegelder. Die Reedereien zahlen Millionenbeträge, um ihre entführten Schiffe und Mannschaften freizubekommen.

Khalief-Diir fährt fort. Seine Komplizen, sagt er, hätten von ihrem Anführer Dagaweene, was „der Mann mit den großen Ohren“ heißen soll, fünf Kalaschnikow-Sturmgewehre und zwei Panzerfäuste erhalten. Die Waffen liegen heute in der Asservatenkammer des Landgerichts. Sie wurden zu Beginn des Verfahrens präsentiert: Die Panzerfäuste und die Sturmgewehre waren verrostet, die salzige Seeluft und das Wasser haben ihnen so zugesetzt, dass die Experten der Kriminalpolizei keine Fingerabdrücke mehr sicherstellen konnten. Khalief-Diir berichtet dem Gericht jetzt ausführlich, wer welche Waffe trug.

Für die Festlegung des Strafmaßes ist das sehr wichtig. Denn die Waffe könnte auch Aufschluss darüber geben, wer in der Gruppe welche Rolle gespielt hat. Wie die Macht unter den Seeräubern verteilt war, die sich nun fast alle selbst als Opfer sehen.

„Khalief-Diir tut so, als ob er dem Gericht die Wahrheit sagen würde, das macht er aber nicht“, sagt einer der von ihm Beschuldigten. Diirs Vater sei unter dem Namen Demerod bekannt: „Der, der Lügen verbreitet“. Diirs Vater und ein Bruder, der in England lebe, hätten den Überfall finanziert und organisiert. „Aus meiner Sicht war Khalief-Diir unser Anführer“, sagt der Mann, der mit einer Panzerfaust bewaffnet gewesen sein soll. Und er sagt von sich: „Ich wurde unter einem Vorwand auf die Dhau verschleppt.“

Ahmet Mohammed beschuldigt Khalief-Diir ebenfalls, der Chef gewesen zu sein, gemeinsam mit Dagaweene. Er soll angeblich bereits andere Schiffe überfallen haben und von der französischen Marine festgenommen worden sein. So steht Aussage gegen Aussage.

Und das Gericht steht wieder vor einem Dilemma. Es weiß sowieso nur wenig über die Angeklagten. Es hat keine Ausweispapiere gesehen, keine Geburtsurkunden. Über das jugendliche Alter eines Teils der zehn Beschuldigten wurde deshalb ebenso gestritten wie über die korrekte Schreibweise der Namen. Fast alle Angeklagten sind im Bürgerkrieg aufgewachsen, sie erzählen von Flucht, Vertreibung, von getöteten Angehörigen. Beweisen können sie das alles nicht, kein Entlastungszeuge ist geladen worden, sondern allenfalls ein Experte wie Stig Hansen, der in Somalia Interviews mit Piraten geführt hat und im Zeugenstand der weit verbreiteten These widersprach, dass die Somalis sich zunächst mit ihren Raubzügen gegen die Überfischung ihrer Gewässer durch die großen Fangflotten oder gegen die illegale Giftmüllentsorgung vor ihrer Küste wehren wollten. „Piraterie in Somalia ist hoch profitabel“, sagte Hansen und nannte eine Summe von 35 000 Dollar, die ein Pirat nach einer erfolgreichen Geiselnahme einstreichen könnte.

Als Aden Abdis Anwalt vor Gericht erklärt, indische Zeugen könnten bestätigen, dass sein Mandant vor dem Überfall mit einer Kalaschnikow bedroht wurde, ist das Gericht abermals mit der globalen Dimension des Piraterie-Business konfrontiert. Ausgerechnet die ersten Opfer der später vereitelten Kaperfahrt sollen also einen der Täter entlasten, jene indischen Seeleute, die mit ihrer Dhau zunächst entführt worden waren. Sie waren wochenlang in der Hand der Seeräuber.

Warum sind sie Piraten geworden?

Doch nach Deutschland kommen wollen die Männer der Hud Hud nicht. Das Gericht kann lediglich Ashwin Raman, 66 Jahre alt, TV-Journalist, als Zeugen gewinnen. Der Reporter, geboren im indischen Bundesstaat Gujarat, lebt in Deutschland, arbeitet vor allem für den öffentlichen Rundfunk und hat das Schicksal der indischen Seeleute recherchiert. Das Gespräch mit zwei der Inder hat er in Salaia gefilmt. Die Strafkammer schaut sich im Juni die Videoaufzeichnungen an. Die Frage, wer die Piraten anführte, klären auch sie nicht.

Abdiwali M. hat dem Gericht zu erklären versucht, warum er Pirat wurde. Er erzählt, dass er vier Jahre alt war, als seine Eltern starben. Zwei Schwestern seien später im Bürgerkrieg ums Leben gekommen, der länger dauert, als Abdiwali M. alt ist. Er ist einer der Jüngsten in der Gruppe, er gilt als Jugendlicher und wuchs bei einem älteren Bruder auf, nur zwei Monate habe er Unterricht gehabt, in einer Koranschule. Er musste viel arbeiten, seitdem er zehn ist, sorgt er für sich selbst. Er war unter anderem auf einem Fischerboot beschäftigt, von dort war der Weg zu den Piraten, die stets jungen Nachwuchs suchten, nicht weit. 500 Dollar habe man ihm für den Angriff geboten. Ein für ihn unvorstellbarer Reichtum.

Fast zwei Jahre lang saß Abdiwali M. in Untersuchungshaft, erst in den Niederlanden, dann in Hamburg. Dann wäre die Zeit im Gefängnis für einen Jugendlichen zu lang geworden. Seit April hat er keine Gitter mehr vor seinem Zimmer. Er lebt mit zwei weiteren jungen Angeklagten in einer Jugendwohnung. Sie hätten sich gut entwickelt und Fluchtgefahr bestehe nicht mehr, sagt ein Gerichtssprecher.

Ob Abdiwali M. bei einer Verurteilung erneut ins Gefängnis muss, hängt von der Höhe der Strafe ab. Die zwei Jahre Untersuchungshaft werden auf eine mögliche Haftstrafe angerechnet. Vielleicht, so sagte der Junge in einem seltenen Interview, habe der Überfall doch noch etwas Gutes für ihn gehabt: In Hamburg will er endlich zur Schule gehen.

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