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Missbrauchsopfer bei den Zeugen Jehovas klagen, dass sie keine Unterstützung durch ihre Gemeinschaft erhalten hätten.

© picture alliance / dpa

„Sie haben mich für ihre Religion verkauft“: Missbrauchsopfer bei Zeugen Jehovas beklagen fehlende Hilfe

Missbrauchs-Kommission bittet Opfer den Zeugen Jehovas, sich zu melden. Experten untersuchen, ob Strukturen der abgeschotteten Gemeinschaft Taten fördern.

Mia war fünf Jahre alt, als sie vor einem großen Rätsel stand. Was meinte der 15-Jährige, der auf sie aufpasste, weil ihre Eltern unterwegs waren, mit dem Satz, sie solle ihn stimulieren? Und weshalb hatte er seine Hose ausgezogen?

Sie sollte es schnell erfahren. Irgendwann musste sie ihn oral befriedigen, er stöhnte dabei. Mia war angeekelt, sie erzählte ihrer Mutter von den Forderungen des Jungen. Die Fünfjährige wusste, ss ihre Mutter viel von Gott sprach und Sünde und mit einer Zeitschrift von Haus zu Haus zog. Aber sie konnte wenig mit dem Begriff „Zeugen Jehovas“ anfangen.

Dass ihre Eltern zur Gemeinschaft gehörten, sollte Mias Leben fast zerstören. Denn die Mutter war entsetzt, als sie von dem Missbrauch hörte – allerdings nicht über den Jungen, sondern über die Gefahren, die ihm drohen könnten.

Die Mutter verbot Mia, etwas über den Missbrauch zu erzählen

Mias Mutter sprach zwar mit der Mutter des Jungen, aber dann flößte man der Fünfjährigen ein, sie dürfe mit niemandem darüber reden. Sie sei an etwas beteiligt gewesen, was Gott absolut verwerflich finde. Und sie dürfe dem Täter die Zukunft nicht kaputt machen.

Mia erfuhr, dass sie "beschädigte Ware" sei

Nun wuchs sie mit der These auf, dass sie keine echte Jungfrau mehr sei, „beschädigte Ware“, wie Mia das selber nennt. Mehrmals versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Erst viel später, längst erwachsen, nach einer Therapie, löste sie sich von den Zeugen Jehovas und wandte sich an die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.

Sie schilderte ihre Geschichte, sie verband damit die entscheidende Botschaft: „Jetzt bin ich kein schweigendes Opfer mehr. Ich habe Würde.“ Mias Geschichte ist einer der Fälle, welche die Kommission Mitte Mai in einer Pressekonferenz vorstellt. Die Kommission möchte noch viel mehr dieser Fälle bundesweit aufarbeiten, Taten, die teilweise Jahrzehnte zurückliegen.

Kommission bittet Zeitzeugen und Opfer bei den Zeugen Jehovas, sich zu melden

Deshalb bittet sie Betroffene, Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, sich zu melden, ihre furchtbaren Geschichten zu erzählen. Die Kommission möchte herausfinden, welche Bedingungen sexuellen Kindesmissbrauch in der Vergangenheit bei den Zeugen Jehovas ermöglicht haben. Aber auch: Gibt es Strukturen, die Aufklärung und Aufarbeitung behindern? Die Arbeit beginnt, sobald die Berichte eingegangen sind.
Ein enormes Problem bei der Aufklärung und Aufarbeitung war auf jeden Fall die so genannte Zwei-Zeugen-Regel. Sie besagt, dass ein Missbrauchs-Opfer mindesten einen zweiten Zeugen präsentieren muss, der den Missbrauch bestätigt, wenn der Täter oder die Täterin nicht geständig ist. In der Praxis ist dies natürlich so gut wie unmöglich, welcher Täter missbraucht vor Zeugen?.

Kirchengerichte mit älteren Männern kümmerten sich die Fälle

Bei den Zeugen Jehovas haben sich so genannte Kirchengerichte um die Missbrauchsfälle gekümmert. In diesem Gericht saßen ältere Männer und urteilten. Gab es keinen zweiten Zeugen, dann waren die Ältesten angewiesen, die Angelegenheit in Jehovas Hände zu geben.

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Bedeutet: Dem Kind wurde nicht geholfen, die Tat nicht angezeigt. Sanktionen für die Täter durch das Gericht waren offenbar milde. Sie durften sich in Versammlungen nicht mehr zu Wort melden, ihnen drohte aber kein Ausschluss aus der Gemeinschaft. Matthias Katsch, ebenfalls Kommissionsmitglied, sagt: „Die Zwei-Zeugen-Regelung diente dem Schutz des Täters.“ Und die rigorose Abschottung der Gemeinschaft gegenüber der Außenwelt hat große Auswirkungen.

"Kinder werden in einem abgeschossenen Mikrokosmos sozialisiert"

„Kinder werden in einem abgeschlossenen Mikrokosmos sozialisiert“, sagt der Sozialpsychologe Keupp, „sie haben kein anderes Netzwerk als Mitglieder der Gemeinschaft“.
Eine staatliche Regierungskommission in Australien hat vor einigen Jahren hunderte Missbrauchsfälle bei den Zeugen Jehovas in Australien dokumentiert, mit Hilfe von internen Unterlagen der Zeugen Jehovas dokumentiert. Immer wieder wurde dabei die Zwei-Zeugen-Regel erwähnt.

Udo Obermayer war Mitglied der Zeugen Jehovas und Ältester, später stieg er aus der Gemeinschaft aus und gründete 2018 die Aussteiger-Hilfsorganisation „Help“. Bei der Pressekonferenz erzählte er, „dass eine Anzeige bei der Polizei nun möglich sei, aber nicht zwingend. Nur wenn das Opfer es will“.

Ein Aussteiger erklärt, wer die Gemeinschaft verlasse, gelte als Verräter

Obermayer macht auch klar, dass man es nicht unterstütze, wenn ermittelnde oder strafverfolgende Behörden eingeschaltet würden. Er stellt fest, dass nur ausstiegswillige Mitglieder sich an die Behörden richteten. Aussteiger, sagt Obermayer, würden von den Zeugen Jehovas als Lügner bezeichnet.

„Es kann ja sein“, sagt Keupp, „dass es bei den Zeugen Jehovas in einzelnen Punkten Veränderungen gibt, aber das gilt nicht für Fälle in den vergangenen Jahrzehnten.“ Und genau diese Fälle wolle die Kommission aufarbeiten. „Was wir bisher in Deutschland festgestellt haben, fügt sich zu den Kenntnissen, die wir durch die australische Kommission und aus Informationen aus europäischen Ländern haben“, sagt Katsch.

Für einen Aufsteiger ist das Kirchenprivileg der Zeugen Jehovas ein Problem

Für Obermayer ist es ein Problem, dass die Zeugen Jehovas das Religionsprivileg besitzen. „Das bedeutet, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten intern regeln dürfen.“ Dieses Privileg besitzt zwar auch die katholische Kirche, „aber die“, sagt Keupp, „darf intern keinen einzigen Fall regeln, weil sie jeden Fall der Staatsanwaltschaft anzeigen muss“.

Mia muss nicht bloß den Missbrauch verarbeiten. Sie ist auch mit einer „erschütternden Erfahrung“ konfrontiert: „Meine Eltern haben das Klima für den Missbrauch geschaffen. Sie haben mich für ihre Religion verkauft.“

Alle Informationen zum Aufruf erhalten Interessierte unter www.aufarbeitungskommission.de oder telefonisch unter 0800 40 300 40 (kostenfrei und anonym).

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