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Panorama: Vermisste aus Deutschland: Deutsche Krisenstäbe suchen mit

Die offizielle Auskunft ist monoton und trostlos. "Wir können noch keine belastbare Vermisstenzahl nennen", sagte der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Andreas Michaelis, am Montag in Berlin.

Die offizielle Auskunft ist monoton und trostlos. "Wir können noch keine belastbare Vermisstenzahl nennen", sagte der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Andreas Michaelis, am Montag in Berlin. Wie viele Bundesbürger unten den Ruinen des World Trade Center verschüttet sind, weiß niemand. Eine Zahl irgendwo zwischen 30 und 100 scheint wahrscheinlich.

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Licht in die Schicksale der Vermissten zu bringen, ist die Aufgabe des Auswärtigen Amtes. Im Krisenzentrum sitzen 18 Mitarbeiter allein an den Telefonen - im Schichtdienst. Hier melden sich Familienangehörige, Freunde und Kollegen, die einen ihnen Nahestehenden in den USA wissen und nun nicht erreichen können. "Unser Stab fragt dann nach: Was ist der letzte bekannte Aufenthaltsort, was war der Zweck der Reise?", erklärt Michaelis.

Nur selten wissen die Anrufer, ob der Verschollene einen Termin am Dienstag morgen vergangener Woche im World Trade Center im Finanzdistrikt Manhattans hatte. Vermisst werden oft auch jene, die aus irgendwelchen Gründen irgendwo in den USA unterwegs waren.

Alle kommen auf eine Liste der gegenwärtig nicht Kontaktierbaren. Der Stab streicht langsam zusammen: Doppelmeldungen, Dreifachmeldungen, wieder Aufgetauchte. Doch nicht alle, die irgendwann als unerreichbar gemeldet wurden, rufen an, wenn klar ist, dass sie dem Horror in New York entkommen sind. "Wir sind angewiesen auf den intensiven Telefonkontakt des Krisenzentrums mit den Angehörigen", sagt Michaelis.

15 000 Meldungen gingen insgesamt ein. Vergangenen Donnerstag standen 700 Personen auf der Liste, am Freitag waren es noch 600, die als mögliche Opfer galten. Am Sonntag war die Zahl auf 270 zusammen geschmolzen. Am Montag morgen standen noch 205 Namen auf der Liste jener "Personen, wo man davon ausgehen muss, dass es möglicherweise Vermisste sind", wie die offizielle Spachregelung des deutschen Außenministeriums lautet.

Inzwischen hat der "Weiße Ring", die prominenteste deutsche Organisation zum Schutz von Verbrechensopfern, die Politiker aller Parteien aufgefordert, die Geltung des Opferschutzgesetzes auf im Ausland verübte Gewalttaten gegen Bundesbürger auszudehnen. Der Unions-Rechtspolitiker Norbert Geis meinte dazu, die Forderung sei "ohne jeden Zweifel unterstützenswert". Eine klare Rechtsgrundlage für die deutschen Opfer in den USA sei nötig, da nur so rasche und angemessene Hilfe gewährt werden könne.

Einen zweiten Krisenstab unterhält das "Deutsche Haus" in New York schräg gegenüber vom UN-Hauptquartier, auf der Ostseite Manhattans. Hier sind das Generalkonsulat, die UN-Vertretung und das Deutsche Informationszentrum untergebracht.

Aus den beiden Krisenstäben soll ein Netzwerk werden, zu dessen Unterstützung am Sonntag eine Gruppe deutscher Psychiater und Psychologen in die USA aufbrach. Weitere Ärzte und Betreuer sollen folgen. Im "Deutschen Haus" hat man bereits Listen mit deutschsprachigen Ärzten und Bestattungsunternehmen zusammen gestellt, die die Überführung von Leichen - oder Leichenteilen - in die Bundesrepublik organisieren können. Angehörige, die auf eigene Faust in die USA fliegen, werden von den deutschen Diplomaten dringend gebeten, Zahnbürsten, Haare oder gebrauchte Wäsche mitzubringen, damit die DNA-Proben verglichen werden können.

Die Anrufe, die bei den Krisenzentren eingehen, sind manchmal erschütternd, manchmal auch Offenbarungen der Hilflosigkeit. "Wieso ist nicht ein Schiff der Regierung unterwegs, das unsere Leute aus dem Schlamassel herausholt?", will ein Anrufer wissen. "Warum haben Sie meine Tante noch nicht gefunden? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie vor zwei Wochen nach Amerika fliegen wollte und sich seitdem nicht gemeldet hat", sagt ein anderer.

Im Berliner Krisenzentrum sitzen die Beamten in jenem Raum, der bereits während des Geiseldramas auf der Insel Jolo als Nervenzentrum diente. Raum 0.0.55 im Erdgeschoss des mächtigen Gebäudes am Werderschen Markt ist stets abgeschlossen. Halb geöffnet sind nur die zentnerschweren Metalltüren vor den Fenstern, Relikte jener Zeit, da die Deutsche Reichsbank hier einen Tresor unterhielt. Heute steht hier das Inventar von Krisen-Koordinatoren: Stühle, Tische, Fernseher, Videorekorder, jede Menge Telefone. An der Wand hängen neun verschieden eingestellte Uhren. Während des Geiseldramas auf Jolo war die erste, unter der "Krise" steht, um sechs Stunden vorgestellt: Ortszeit Manila. Heute ist sie um sechs Stunden zurückgestellt: Ortszeit New York.

Im Laufe der Woche, so hofft man im Auswärtigen Amt, könne sich eine "belastbare Zahl" der deutschen Opfer heraus kristallisieren. Über eines allerdings herrscht bereits Gewissheit. "Es wird schwer, wenn nicht unmöglich, alle bei diesem Anschlag zu Tode Gekommenen eindeutig zu identifizieren." Dies gilt für alle Opfer, die Deutschen, die Amerikaner, die vielen vielen anderen.

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