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Panorama: Wall Street Journal: Von der Seele geschrieben

Die Redaktionsräume des Wall Street Journal gleichen einem Kriegsschauplatz. Der Orkan der Zerstörung durchschlug die Fenster der Büros im World Financial Center 1.

Die Redaktionsräume des Wall Street Journal gleichen einem Kriegsschauplatz. Der Orkan der Zerstörung durchschlug die Fenster der Büros im World Financial Center 1. Betontrümmer, Staub und Asche bedecken die Schreibtische, die Computerbildschirme, die Telefone. Es wird Monate dauern, bis hier wieder Zeitung gemacht wird. Die Zeitung mit einer täglichen Auflage von weltweit 1,9 Millionen Exemplaren war untrennbar mit dem Financial District verbunden, ein Symbol New Yorks wie der Broadway und die Freiheitsstatue. Doch seit dem 11. September hat das Wall Street Journal den Süden Manhattans verlassen.

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Hier ist eines von 17 Druckhäusern, in denen die US-Ausgabe der Zeitung hergestellt wird. Der Duft fabrikneuer Technik erfüllt die Räume. "Wir haben über 200 neue Computer angeschafft", erzählt Steven Goldstein, Kommunikationschef der Dow Jones Company. Auch Kopiergeräte und Drucker wurden gekauft. "In den ersten Tagen sind die Leute hier überall in die Gegend ausgeschwärmt", sagt John Bussey. "Wir haben Geschäfte in ganz New York abgeklappert: Wie viele Computer habt ihr auf Lager? 15? Wir nehmen sie alle."

Der 44-jährige Auslandschef des Wall Street Journal wohnt wie viele andere Redaktionskollegen zurzeit in einem Hotel in New Brunswick. Er gehörte zu den Letzten, die am 11. September aus den Redaktionsräumen im World Financial Center 1 flüchteten. Die meisten der rund 700 Mitarbeiter der Dow Jones Company, zu dem auch das Wall Street Journal gehört, verließen das Gebäude an der Liberty Street 200 gegen 9.15 Uhr, kurz nachdem das zweite Flugzeug in den Nordtower des World Trade Centers raste. "Viele liefen über die Brooklyn Bridge, andere wie ich nahmen eine Fähre", erzählt Steven Goldstein. "Die Leute rannten in alle Richtungen auseinander. Die meisten fuhren nach Hause." Doch John Bussey blieb. Er stand am Fenster im 11. Stock des Gebäudes und berichtete dem Fernsehkanal CNBC live von dem Inferno, das nur einen Block entfernt von ihm tobte.

"Ich sah, wie die Menschen aus dem World Trade Center in die Tiefe stürzten. Ihre Körper explodierten förmlich, als sie auf der Straße aufschlugen." Als der erste Tower des World Trade Centers zusammensank, ging Bussey unter einem Schreibtisch in Deckung. Ein Sturm aus Geröll raste über ihn hinweg. "Außer Staub und Asche war nichts zu sehen. Ich tastete mich durch den Raum. Irgendwann war ich draußen."

John Bussey fand seinen Weg hinunter zum Hudson River, wo ihn ein Privatboot hinüber nach New Jersey mitnahm. Sofort machte er sich auf den Weg nach South Brunswick und schrieb sich den Horror von der Seele. "Ich kam hier mit nichts an als meinen Kleidern auf dem Leib. Es war gut, dass ich schreiben konnte", sagt er, "ich weiß nicht, wie es mir sonst gehen würde." Die Arbeit lenke ihn ab, doch die Bilder könne er nicht vergessen. Karen House erfuhr zur selben Zeit in Hongkong von den Ereignissen in New York. Die Koordinatorin für internationale Angelegenheiten bei Dow Jones erreichte die Nachricht von den Terroranschlägen während eines Galadinners aus Anlass des 25-jährigen Bestehens der Asien-Ausgabe des Wall Street Journals.

"Es war kurz nach 21 Uhr, und wir hatten noch drei Stunden bis zum Redaktionsschluss in Hongkong. Die Mitarbeiter machten sich sofort an die Arbeit. Als sie damit fertig waren, halfen sie den Kollegen der Europa-Ausgabe in Brüssel." Zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand, dass alle 700 Beschäftigten des Unternehmens, unter ihnen die 350 Mitarbeiter des Wall Street Journal, der Katastrophe unverletzt entkommen waren.

Doch in den dramatischen Stunden nach dem Terroranschlag hatten die Journalisten des Wall Street Journals nichts anderes mehr im Sinn, als der Welt zu zeigen, dass es sie noch gab. "Das Wichtigste für uns war, dass die Zeitung erscheint", sagt Steven Goldstein. Chefredakteur Paul Steiger und Nachrichtenchef Marcus Branchley machten sich unmittelbar nach ihrer Flucht aus Manhattan mit zwei weiteren leitenden Mitarbeitern auf den Weg zum stellvertretenden Chefredakteur Byron Calame. In dessen Wohnung in Brooklyn richteten sie eine improvisierte Redaktionsleitung ein. "Wir hatten zwei Telefonleitungen, zwei Computer, zwei Laptops und einen Drucker. Damit haben wir die Produktion koordiniert", erzählt Byron Calame. "Die Reporter arbeiteten zu Hause und schickten uns ihre Beiträge, die wir redigierten und zum Art Director weitersandten."

In der Dow Jones-Niederlassung in New Jersey übernahm Jim Pensiero die Leitung über die etwa 20 Redakteure, die sich hier eingefunden hatte. "Jim ist normalerweise für das Budget verantwortlich", erzählt Auslandschef John Bussey, "aber an diesem Nachmittag machte er einfach alles. Viele wuchsen in diesen Stunden über sich hinaus und gingen an ihre Grenzen." Einer von ihnen war William Godfrey, der technische Direktor, der in South Brunswick die Leitung zum Zentralrechner im World Financial Center aufrecht erhielt. Nachdem die Energieversorgung im Katastrophengebiet zusammengebrochen war, hielt ein Notstromgenerator den Rechner noch zwei weitere Tage in Betrieb. Dann ging dem Generator der Diesel aus.

Die Notoperation gelang. Das Wall Street Journal erschien auch am 12. September. Zum ersten Mal in seiner 112-jährigen Geschichte kam es nicht aus Manhattan, sondern aus allen Teilen New Yorks. "Und wir wären selbst dann erschienen, wenn niemand von uns überlebt hätte", behauptet Steven Goldstein. "Dann hätten die Kollegen in Hongkong und Brüssel die US-Ausgabe produziert." Der 47-Jährige sagt das mit Überzeugung und ohne Zynismus. Der Terroranschlag sollte auch sie treffen, die Macher des Wall Street Journals. Karen House sitzt ihm gegenüber. Die Dow Jones-Veteranin nimmt dem Gesagten nichts von dem stolzen Selbstbewusstsein, das mitschwingt und die Stimmung der gesamten Redaktion wiedergibt. "Das Blatt hätte wohl weniger Seiten gehabt", sagt sie und lächelt bitter.

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