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Gott oder Vernunft: Welt der Wunder

Dass Menschen, meist von kollektiver Unvernunft, angesichts einer extremen Notlage mit ungeheurer Kraft an einer zutiefst humanen Aufgabe arbeiten und zusammenhalten können: Es ist ein irdisches Wunder.

Die extremste Schlagzeile ist damals, im November 1963 nach der Rettung der elf Bergleute von Lengede, dann doch nicht erschienen. Da sich der Chefredakteur mit seiner Idee „Gott hat mitgebohrt“ nicht durchzusetzen vermochte, titelte „Bild“ schlichter: „Gott lebt doch!“

Gestern, nach der beglückenden Rettung der 33 Grubenarbeiter aus der chilenischen Mine San José, war das religiöse Vokabular erneut sehr nachrichtentauglich. „Gott hat gewonnen“, zitierte „Die Welt“ in der Titelschlagzeile einen Geretteten, und die „FAZ“ wusste, warum: „Mit Phönix aus der Unterwelt“. Allerorten, vom Papst bis zu Barack Obama, war von Gebeten und der Güte Gottes die Rede.

Der hierzulande meistverwendete Begriff zur Bewältigung des scheinbar Unbegreiflichen aber ist das „Wunder“. Das war schon in Lengede so – nicht erst seit Sat 1 genau 40 Jahre später seinen zweiteiligen Quotenrenner „Das Wunder von Lengede“ nannte. Tatsächlich rührt der chilenische 69-Tage-Schrecken mit allumfassendem Happy End an die Grenzzonen rationaler Fassbarkeit und drängt mit aller Macht in die Metapher. Da ringen Gott und Teufel um die eingeschlossenen Seelen, die schließlich aus der Hölle aufsteigen, da wird der Schacht mit der Rettungskapsel zum zweiten Geburtskanal der behutsam Zutagegeförderten, und von der allseits bejubelten Wiedergeburt der 33 bis zu ihrer Auferstehung ist es nur ein kleiner Gedankensprung.

So verständlich es scheint, dass die durch die Rettungsbilder aufgewühlte, ja, miterlöste Weltgemeinschaft zu den höchsten Vergleichen greift: Ein Wunder im Sinne religiöser Wunder, von Jesu’ Auferstehung bis zu den wallfahrtstauglichen Marienerscheinungen, hat sich in diesen dramatischen Wochen gerade nicht ereignet. Sondern eine Meisterleistung menschlicher Vernunft.

Die in fast 700 Metern Tiefe Eingeschlossenen schufen sich umsichtig Autoritäts- und Funktionsstrukturen, rationierten ihre Vorräte klug und gemeinschaftlich und arbeiteten, als der Kontakt zur Außenwelt hergestellt war, diszipliniert ihrer Befreiung entgegen. Die Helfer von außen wiederum setzten, auch gegen Hindernisse und Rückschläge, alles verfügbare Wissen und technische Vermögen ein. Die Rettung der Bergleute von San José ist also nichts Geringeres als ein Anlass für die Menschheit, weltumspannend und ausnahmsweise über sich selbst glücklich zu sein.

Nun könnte man sagen, genau das ist das Wunder. Dass Menschen, meist von kollektiver Unvernunft, angesichts einer extremen Notlage mit ungeheurer Kraft an einer zutiefst humanen Aufgabe arbeiten und zusammenhalten können: Es ist ein irdisches Wunder, ein sehr säkulares. Wenn auch nicht so nüchtern ins alltagsüberhöhte Staunen zu fassen wie einst das sportliche Wunder von Bern oder das Wirtschaftswunder, die selber zu Begriffen wurden. Übrigens: Wer weiß heute noch, dass der Diktator Pinochet, nachdem er Chile auf seine Weise befriedet hatte, einst den heimischen Wirtschaftsboom „Das Wunder von Chile“ nannte?

Ein Wunder aber bleibt „der Erde, die ihre Geiseln freigab“, wie die Berliner „BZ“ gestern formulierte. Ein Wunder ex negativo. Sie hielt still, 69 lange Tage lang. Kein Beben am Ort, keine Vulkanausbrüche, nichts, womit unser unbegreiflicher Planet immer wieder seine Bewohner und vor allem die Chilenen peinigt, zuletzt im Februar. Dies sind die bösen Wunder – die Katastrophen, mit denen wir jahrein jahraus leben.

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