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Panorama: Wolfsburg und Hannover: Das Volk und sein Wagen

Das Paradies ist nah. Man muss nur das Zauberwort kennen, dass das goldene Tor öffnet.

Das Paradies ist nah. Man muss nur das Zauberwort kennen, dass das goldene Tor öffnet. Hier ist es, das Zauberwort: Service. Überall und jederzeit unbedingte Freundlichkeit. Guten Tag, herzlich willkommen in der Autostadt, was kann ich für Sie tun? Darf ich Ihnen weiterhelfen? Acht Stunden lang am Tag, und wenn es sein muss, auch länger. Service ist Chefsache: oberstes Prinzip allen Handels, Kalkül und Philosophie. Unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen des großen Ganzen. Ohne Service geht nichts mehr. In Amerika schon lange. Noch nicht so lange in Deutschland.

Otto Ferdinand Wachs residiert in einem luftigen Büro mit schwarzen, ledernen Sesseln. Viel Glas und ein schöner Ausblick auf das Werk, das er seit fünf Jahren betreut. Sein Werk. Das er aus dem Nichts, aber mit dem größten Wohlwollen seines Vorstands in die Wüste gesetzt hat, die niedersächsische Wüste. Wachs ist Geschäftsführer der Autostadt von VW. Die Autostadt, das ist eine Erlebniswelt, in der Kunde und Marke auf ganz neue Art zueinander finden sollen. 850 Millionen Mark hat sich VW das kosten lassen, hochgezogen in gerade mal zwei Jahren. Ein Mammutprojekt, dessen letztes Stadium nicht ganz spurlos an dem 43-Jährigen vorübergegangen ist. Schon als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des VW-Konzerns hat Wachs gelernt, was es heißt, keine Zeit zu haben. Doch in den letzten sechs Monaten keine Nacht mehr als vier Stunden geschlafen zu haben, das schlaucht wirklich. "Es hat sich gelohnt", sagt Wachs.

Zur Ruhe findet er auch jetzt nicht, einen Monat nach der Eröffnung. Die Autostadt ist eine 100-prozentige Tochter von VW. Ein nicht unwesentliches Detail. Jedenfalls für die 800 Mitarbeiter. Denn die werden nicht nach dem Haustarif von VW entlohnt, sondern verdienen - "natürlich" - weniger als die Werker, die in den Hallen gegenüber an den Bändern stehen. "Aber dafür", sagt Wachs, "haben wir 800 Arbeitsplätze geschaffen." Ist das etwa nichts? Im August muss er wieder für ein paar Tage nach New York. Dort führt er Gespräche mit seinen Trendscouts, die für ihn auf der Suche nach dem Aktuellsten des Aktuellen die Szene durchforsten. Der Trend, das Goldene Kalb. Weil sich nur der auf Dauer "Markenführer" nennen darf, der an der Spitze der Trendsetter seine Runden zieht. "Wir müssen uns den Veränderungen stellen und die Herausforderungen annehmen", sagt Wachs. Das sagt man so als Manager. Bei dem einen klingt es wie eine Floskel, dem anderen nimmt man es ab. "Wenn Sie vorne bleiben wollen, müssen Sie sich schnell drehen."

Der Fortschritt ist ein Karussell, und die Fahrkarten sind blitzschnell vergriffen. Das Ziel ist klar: die Ersten und die Besten zu sein. Zum Beispiel beim Service. 50 Mitarbeiter wurden in Amerika ein halbes Jahr lang geschult. "Meine Mitarbeiter müssen dienen", sagt Wachs. Oder besser, dienen lernen. Jeder Teamleiter schreibt jeden Tag einen Bericht, jeder Mitarbeiter sollte mindestens zweimal am Tag seinem Vorgesetzten begegnen, vor Schichtbeginn und am Ende trifft sich das Team, um Gut und Schlecht sauber voneinander zu trennen. Drei Millionen Mark hat allein die Dienstkleidung gekostet, "alles vom Feinsten", selbst die Reinigung wird von der Autostadt übernommen. Kann da nicht verlangt werden, dass der Mitarbeiter an der Rolltreppe oder bei Mövenpick, wo es die Kult-VW-Currywurst gibt (8,50 Mark mit Kartoffelsalat oder Pommes) und VW-Curry in einer Spezialabfüllung von Kraft, jeden Gast mit ausgesuchter Höflichkeit empfängt, acht Stunden am Tag, und kämen Tausende?

Und es kommen Tausende. 200 000 Besucher haben sich die Autostadt in den ersten vier Wochen angesehen, Wachs rechnet mit einem Schnitt von 5000 pro Tag. 24 Mark kostet der Eintritt, kein Pappenstiel, aber immer noch billiger als die Expo in Hannover.

Ach, die Expo. Etwa 80 Kilometer sind es von Wolfsburg nach Hannover. Aber in Wolfsburg ist die Stimmung prächtig, in Hannover gedrückt. Die Besucherzahlen der Weltausstellung gehen ständig zurück. "Wir sind unglücklich darüber", heißt das tägliche Lamento aus der niedersächsischen Landeshauptstadt. Die Expo-Gesellschaft hatte mehr als doppelt so viele Menschen erwartet. Pessimisten sehen das Gesamtdefizit schon bei 1,6 Milliarden Mark. Gelände leer, Kassen leer, alles gelaufen? Jetzt wurde, als Gegenmaßnahme, eine neue Werbeoffensive für 70 Millionen Mark abgesegnet. Ob das hilft? Können fremde Kulturen gegen des Deutschen liebstes Kind bestehen?

In Wolfsburg hat man von Anfang an niedriger gestapelt. Wie lebt es sich im Schatten des großen Bruders? Schatten? "Von der Expo haben wir nichts", sagt Wachs, "überhaupt nichts." Anlaufschwierigkeiten? Defizite? "Kennen wir nicht, haben wir nicht", sagt der Manager. Die Werbung beschränkte sich auf ein paar Anzeigen zur Eröffnung, die Homepage der Autostadt klickten bislang knapp 45 000 User an.

Was hat die Autostadt, was die Expo nicht hat? Sicher ist eines: Wer in die Autostadt kommt, der hat sich nicht zufällig nach Wolfsburg verirrt. Nach Wolfsburg verirrt man sich nicht. Nach Wolfsburg muss man wollen.

In zwei transparenten Rundtürmen stapeln sich Hunderte von Autos, die von ihren strahlenden Besitzer selbst abgeholt werden wollen. 300 pro Tag sind es zur Zeit, und wenn die Rechnung von Wachs aufgeht, dass jeder Abholer im Schnitt noch 1,7 Personen mitbringt, dann ist schon mal die Hälfte der Besucher da, die man braucht, um die Autostadt am Leben zu erhalten. Vor dem Hauptgebäude mit seiner vollverglasten Innenpiazza, in der der größte je von Menschenhand geschaffene Globus der Welt die Besucher auf das ganz Außerordentliche einstimmt, fließt der Mittellandkanal. Im Norden begrenzt das VW-Kraftwerk das 26 Hektar große Gelände. Im Nordosten sichert das erste Ritz-Carlton-Hotel Deutschlands das Areal, erbaut nach den strengen Regeln des Feng Shui. Oberstes Gebot auch hier: Service. Mehr noch: Premium-Service. Der Bundeskanzler hat sich die Sache bei der Eröffnung angesehen und soll sehr angetan gewesen sein.

Alle Mitarbeiter des Hotels tragen eine laminierte Karte im Westentaschenformat bei sich, damit sie sich immer und überall an die Goldenen Standards erinnern, die das Management für unabdingbar hält: das Credo; die drei Stufen der Dienstleistung; das Motto; die 20 Grundsätze; das Mitarbeiter-Versprechen. Hotel-Direktor Horst H. Schulze, ein junger Mann von 34 Jahren, sieht das so: "Unsere wichtigste Mission, die hundertprozentige Erfüllung der Kundenbindung und Gastzufriedenheit, kann nur dadurch erreicht werden, dass jeder versteht, was Dienstleistung wirklich ist." Herr Wachs und Herr Schulz, Brüder im Geiste des Dienens. Jeden Sonntag bietet das Hotel einen preiswerten Brunch an, damit auch der ganz normale VW-Werker, von denen es ja immerhin in und um Wolfsburg rund 50 000 gibt, einmal etwas Besonderes erleben kann.

Zum Beispiel einer wie Reinhard Tetzlaff, 53, seit 1969 bei VW dabei, einer, der noch am Käfer mitgeschraubt hat und jetzt im Kraftwerk in der Abteilung Allgemeine Instandhaltung sein Geld verdient. VW-Urgestein. In vier Jahren will er in Rente gehen, wenn es denn möglich ist, und sich in Jembke, einem Örtchen mit 1200 Einwohnern, wo er als Vizebürgermeister in Amt und Würden ist, ganz der Politik und seinem Garten widmen. Tetzlaff ist Vertrauensmann. Und ihm ist anzumerken, dass er sich mit der Autostadt und ihrem Budenzauber ein bisschen schwer tut. Sicher, eine schöne Sache, und hier, wo jetzt der Pavillon von Bentley steht, da war immer eine riesige Kohlehalde, und da hinten, sehen Sie, da war gar nichts, nur Brache. Erinnerungen eines alten VW-Mannes, dem die ganze Autostadt ganz im Inneren nicht ganz geheuer ist. Gut, viele Betriebsräume im Werk wurden im Zuge des Autostadtbaus gleich mit saniert. Aber die Sache mit den schlechteren Tarifen für die Mitarbeiter der Autostadt, die liegt dem Mann im Magen. Er sagt es nicht. Aber es ist zu spüren. Im Ritz-Carlton war Tetzlaff auch noch nicht. Nicht einmal, um einen Kaffee zu trinken. Nicht einmal, um einen Blick auf die seltsam runde Welt des Feng Shui zu werfen. Und wenn nicht alles täuscht, dann wird das auch so bleiben.

Das alles weiß natürlich auch einer wie Wachs. Aber der Mann hat andere Sorgen. Wenn ein Besucher in einem halben Jahr wiederkommt, dann muss er etwas Neues sehen. Stillstand ist der Weg zum Untergang: die Autostadt, der letzte Hort der permanenten Revolution. "Wer zufrieden ist, der wird gefressen." Schönes Leben heißt langsames Sterben. Und wie sieht der nächste Trend aus, demnächst exklusiv in der Autostadt? Wachs sagt: "die Renaissance der realen Werte, weil die Menschen einen Sinn in ihrem Leben brauchen". Ist ein Auto aus dem VW-Konzern nicht ein höchst realer Wert?

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