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An der Ermittlungsgruppe „Berg“, die sich um den Missbrauchs-Komplex Bergisch Gladbach kümmert, sind mehr als 100 Experten beteiligt.

© dpa

Zahl der Ermittler wurde beträchtlich erhöht: Kein Land arbeitet so engagiert gegen Missbrauch wie Nordrhein-Westfalen

Nordrhein-Westfalen hat in kurzer Zeit einen der größten deutschen Missbrauchsskandale aufgedeckt –  weil es mit beachtlichem personellen Einsatz und politischen Willen vorgeht.

Der Schock von Lügde leitete alles ein. Der Schock, dass der nette Dauercamper Andreas V., den auf dem Campingplatz „Eichwald“ in der Nähe der Kleinstadt Lügde in Nordrhein-Westfalen viele nur „Addi“ nannten, in seinem vermüllten Wohnwagen mit einem Mittäter mindestens 40 Kinder in hunderten Fällen missbraucht hatte.

Im Dezember 2018 hatte die Polizei Andreas V. festgenommen.

18 Monate später haben hunderte Ermittler auf diversen Datenträgern die monströse Zahl von 30 000 Verdachtsspuren von tausenden mutmaßlichen Tätern gefunden. Ein bemerkenswerter Erfolg.

Und er kam vergleichsweise schnell, weil nach dem Schock von Lügde der fassungslose nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) konsequent gehandelt hat. Er ordnete an, dass die Polizei in seinem Bundesland „den Kampf gegen Kindesmissbrauch zum Schwerpunkt macht“.

In keinem anderen Bundesland wird seither mit so viel personellem Einsatz und so viel politischem Willen gegen kriminelle Pädophile gefahndet wie in Nordrhein-Westfalen.

Zahl der Ermittler erheblich erhöht

Als erste Maßnahme verlangte Reul, dass die Zahl der Ermittler, die sich um Kindesmissbrauch kümmern, in den landesweit 47 Kreispolizeibehörden verdoppelt wird. Inzwischen sind in diesen Dienststellen 267 Beamte mit diesem sensiblen Thema befasst. Vor Reuls Forderung waren es 104 gewesen. Die 47 Behörden sind nun in einem so genannten „virtuellen Großraumbüro“ vernetzt.

Landesweit ist die Zahl der Ermittler um das Vierfache gestiegen. Und beim Landeskriminalamt (LKA) arbeiten in der „Zentralen Auswertungs- und Sammelstelle Kinderpornographie“ jetzt 60 Beamte. Vor wenigen Jahren waren es nur zwölf.

Aber auch die Ermittlungsmethoden haben sich in den vergangenen Monaten und Jahren erheblich verbessert. Eine neue Software erkennt nun, welches kinderpornographische Material bereits bekannt und ausgewertet ist. „Damit wird viel Doppelarbeit vermieden“, sagte Ingo Wünsch im Frühjahr. Wünsch war im Fall Lügde der Sonderermittler.

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Die Zahl der Fortbildungsplätze hat Nordrhein-Westfalens Innenminister verdoppelt, zudem sind jetzt verstärkt verdeckte Ermittler im Einsatz. „Das sind unsere Lehren aus Lügde“, hatte Reul mal erklärt. Der Innenminister installierte im Sommer 2019 in seinem Ministerium auch eine Stabsstelle Kindermissbrauch. Aufgabe der Mitarbeiter: Strukturen des Kindesmissbrauchs untersuchen.

Reuls Kabinettskollege Peter Biesenbach (CDU), zuständig für die Justiz, hat mit Wirkung von 1. Juli bei der „Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen“ (ZAC NRW) eine neue Taskforce eingerichtet. Die ZAC ist eigentlich für die Bekämpfung von Hackern, Cyberterroristen und Dealern zuständig. Jetzt werden sich in der neuen Taskforce sechs Staatsanwälte nur mit der Strafverfolgung von mutmaßlichen Tätern beim Kindesmissbrauch kümmern.

Task Force mit sechs Staatsanwälten

Diese Task Force ist erst mal auf 18 Monate angesetzt und wird eingeschaltet, wenn es Hinweise auf Verbindungen zu Chatgruppen oder ins Darknet gibt. Die Mitarbeiter sollen die Menschen, die solche Dienste unter Pseudonymen benutzen, aus ihrer Anonymität herausholen. Sie ergänzen dann die Arbeit der jeweils örtlichen zuständigen Staatsanwaltschaften.

Derzeit sind in der Ermittlungsgruppe „Berg“, die sich um den Komplex Bergisch Gladbach kümmert, mehr als 100 Experten eingesetzt. Die sind auf 70 namentlich bekannte Tatverdächtige gestoßen.

Die Haupttäter von Lügde erhielten harte Strafen

Doch trotz des immensen personellen und technischen Aufwands ist jedem Experten klar, dass sie nur die Spitze des Eisbergs entdecken werden. Die Dunkelziffer ist extrem hoch. Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Beauftrage für Fragen des sexuellen Missbrauchs, geht davon aus, dass in jeder Schulklasse in Deutschland mindestens ein Missbrauchsopfer sitzt.

Aber zumindest von Andreas V. und seinem mitangeklagten Haupttäter Mario S. geht jetzt keine Gefahr mehr aus. V. wurde zu 13, S. zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Das Gericht verhängte in beiden Fällen eine anschließende Sicherungsverwahrung.

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