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In Collagen beleuchtet die Zeichnerin wichtige Kapitel und Begriffe der queeren Bewegung.

© Carlsen/Kate Charlesworth

Comic-Memoiren „United Queerdom“: Wie die Queers in Großbritannien für ihre Anerkennung kämpften

In einem opulenten, stilistisch vielfältigen Band schaut die britische Zeichnerin Kate Charlesworth auf das eigene Leben und die queere Emanzipationsgeschichte zurück.

Als Nancy Spain auf dem Fernsehbildschirm auftaucht, ist die junge Kate gleich verzückt von der Autorin und Journalistin. „Sie ist toll“, denkt das Mädchen, das zusammen mit seinen Eltern eine Quizsendung verfolgt. Mitten in den sechziger Jahren kommt es in Großbritannien nicht oft vor, dass „eine echte Butch im TV“ auftaucht, wie Kate Charlesworth diesen Moment viele Jahrzehnte später in ihrer Graphic Memoir „United Queerdom“ beschreiben wird.

Auf einer Doppelseite porträtiert die Zeichnerin Nancy Spain als englische Exzentrikerin in flott-sportlicher Herrenkleidung, die für viele „ein spannendes homosexuelles Rollenvorbild“ war. Sie lebte offen mit der Verlegerin Joan Werner zusammen, mit der sie die Zeitschrift „She“ herausgab. Spain war Buchautorin, Kolumnistin und Promi-Interviewerin, angeblich hatte sie sogar eine Affäre mit Marlene Dietrich. 1964 starb sie 46-jährig zusammen mit Jean Werner bei einem Flugzeugabsturz.

Solche Biografieskizzen gehört zu den großen Stärken des Buchs, in dem Charlesworth die Geschichte der queeren Kultur und Emanzipationsbewegung in Großbritannien ab den fünfziger Jahren nachzeichnet und mit dem eigenen Leben verbindet. Was schon insofern einleuchtet, als sie selbst ab den siebziger Jahren Teil der britischen LGBTIQ-Szene ist und diese als Zeichnerin für Magazine wie „Sappho“, „Pink Paper“ und „Gay News“ mitprägt.

Eine ihrer Figuren – die lederjackentragende Auntie Studs – ist auf dem Cover des Buches zu sehen und hat zudem einen prominenten Gastauftritt in dem Kapitel, das den Widerstand gegen die berüchtigte Section 28 beschreibt. Das von Margaret Thatchers Tory-Regierung 1988 verabschiedete Gesetz untersagte die „bewusste Förderung von Homosexualität“ durch lokale Behörden.

Es bewirkte etwa bei Lehrer*innen eine massive Einschüchterung, was kürzlich der Spielfilm „Blue Jean“ veranschaulichte, führte aber auch zu einer großen Protestwelle. Charlesworth zeigt das etwa mit einem ganzseitigen Bild von einer Demonstration mit 25.000 Teilnehmenden in Manchester. Auch eine spektakuläre Abseil-Aktion im Oberhaus und die Störung einer BBC-Nachrichten-Sendung durch vier Lesben würdigt die Zeichnerin in dynamischen Panels.

„United Queerdom“ kombiniert verschiedene Stilmittel: klassische Graphic-Novel-Sequenzen stehen neben Comicstrip-Elementen, opulenten Opern-Illustrationen sowie doppelseitigen Collagen zu wichtigen queeren Personen und Daten, auf denen Charlesworth Fotografien, fotorealistische Zeichnungen, Flyer, Buttons und Eintrittskarten kombiniert. Skizzenhafter und mit sommerlich leuchtenden Farben ist hingegen die Rahmenerzählung gehalten, die 2016 auf Teneriffa spielt: Kate, ihre Partnerin Dianne, ihre Ex Ness und ihre gemeinsame Freundin Wren erinnern sich im Urlaub an die alten Zeiten.

Die britische Comiczeichnerin Kate Charlesworth.
Die britische Comiczeichnerin Kate Charlesworth.

© Carlsen

1950 in Barnsley, Yorkshire, geboren wächst Kate Charlesworth als einziges Kind eines Eckladenbesitzer-Paars auf. Sie fühlt sich anders als die anderen Mädchen und fragt sich schon früh, ob sie vielleicht lesbisch sein könnte. Zum Kunststudium zieht sie nach Manchester, wo sie schließlich ihr Coming-Out hat, zögerlich die Szene erforscht und ihre erste Beziehung zu einer Frau beginnt.

Auf die Unsicherheiten und skurrilen Erlebnisse dieser Zeit schaut Charlesworth mit liebevollem Humor zurück. Hart sind hingegen die Erinnerungen an den Umgang ihrer Mutter mit dem Lesbischsein ihrer Tochter. Als Charlesworth ihren Eltern berichtet, dass sie mit ihrer Kommilitonin Jackie zusammen ist, lässt die Mutter einen Wutschrei los, der rot unterlegt, von der linken bis zum Rand der rechten Seite reicht: „Ich wusste es! Sie ist eine Lesbe! Widernatürlich! Sie muss zu Psychiater!“ Der Vater bleibt ruhig und sagt, dass ihn das nicht schockiert.

"United Queerdom" von Kate Charlesworth
"United Queerdom" von Kate Charlesworth

© Carlsen/Kate Charlesworth

Kate Charlesworth zieht schließlich nach London und mit ihrer späteren Freundin weiter nach Edinburgh. In einer guten Balance erzählt sie von der Bewegungsgeschichte sowie ihren privaten Erfolgen und Dramen, die auch immer wieder die Zeitläufe spiegeln, etwa wenn ein guter Freund an den Folgen von Aids stirbt.

„United Queerdom“ ist eine spannende Expedition in die britische LGBTIQ-Geschichte, die zwar vieles nur anreißen kann, doch auch immer wieder den Anstoß gibt, selbst weiterzuforschen. Das gilt auch für die vielen popkulturellen Bezüge wie die Entstehungsgeschichte des Songs „Glad To Be Gay“ von Tom Robinson oder den lesbischen Kultfilm „The Killing of Sister George“, den sie in einer Sequenz einer Freundin aus Schweden zeigt, die noch nie davon gehört hat.

Am liebsten würde man sich dazu setzen – oder zumindest gleich mal schauen, ob es das Werk bei einem Streamingdienst gibt. Und so weist die Graphic Memoir ein ums andere Mal über sich hinaus und tiefer in die Geschichte hinein.

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