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Nadine Hwang und Nelly Mousset-Vos.

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Dokumentarfilm „Nelly & Nadine“: Eine lesbische Liebe, die im KZ Ravensbrück begann

Auf der Berlinale gefeiert, jetzt im Kino: Magnus Gerttens Dokumentarfilm „Nelly & Nadine“, den sich Holocaustforscherin Anna Hájková von der University of Warwick für uns angesehen hat.

Am Anfang sehen wir Frauen auf einem Schiff, die im April 1945 in Malmö ankommen. Sie sind abgemagert, ihre Kleidung abgetragen. Sie wurden gerade befreit aus dem Konzentrationslager Ravensbrück. Obwohl die Frauen sichtlich gezeichnet sind, dokumentiert die Szene einen Moment des Glücks, der Befreiung – sie strahlen, sie lachen, sie winken.

Und dann: Zwei junge Frauen mit gestreiften Kopftüchern liegen sich in den Armen und küssen sich direkt auf den Mund. Schnitt, und wir sehen eine ernsthaft dreinblickende schwarzhaarige Frau mit Kurzhaarschnitt. Sie heißt Nadine Hwang. Der Film „Nelly und Nadine“ ist ihre Geschichte, sagt die Off-Stimme.

Szene aus dem Archivmaterial, das Regisseur Magnus Gertten in „Nelly & Nadine“ verwendet hat.
Szene aus dem Archivmaterial, das Regisseur Magnus Gertten in „Nelly & Nadine“ verwendet hat.

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Die Dokumentation des schwedischen Regisseurs Magnus Gertten hatte bei der Berlinale Premiere, wurde enthusiastisch gefeiert und mit einem Teddy Award ausgezeichnet. Es ist der erste Film über lesbische Erlebnisse in einem KZ.

Zudem bietet er eine tolle Geschichte: die schicksalhafte Begegnung zwischen einer belgischen Sängerin und einer französisch-chinesischen Widerstandskämpferin Weihnachten 1944 in Ravensbrück. Die beiden überleben, finden sich nach dem Krieg wieder, ziehen nach Venezuela und leben glücklich und selbstbestimmt bis an ihr Lebensende zusammen.

Ich sage es gleich: Auch ich bin Fan, gerade weil der Film so direkt die überzeugende Geschichte einer großen lesbischen Liebe erzählt. „Nelly und Nadine“ beendet mit einem Schlag Jahrzehnte des Schweigens und der Scham, die seit dem Krieg angedauert haben. Und weil Gertten, der bereits zum dritten Mal mit dem Malmö-Material arbeitet, sein Handwerk beherrscht, ist es ein tolles, packendes Werk geworden ist. Ich habe Dutzende gut gemeinte, aber eher langweilige Dokumentarfilme zum Holocaust gesehen. Das ist keine kleine Sache.

Gerttens weiterer Verdienst ist es, Licht auf eine der ganz wenigen women of color zu werfen, über die wir wissen, dass sie im KZ waren. Nadine Hwang war 1902 in Spanien zur Welt gekommen als Tochter des chinesischen Konsuls und seiner belgischen Frau. Die Familie zog nach China, wo Nadine eine französische Schule besuchte. Anfang der 1930er ging sie nach Paris, wo sie die Begleiterin und Geliebte der großen lesbischen Schriftstellerin Nathalie Barney wurde.

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Hwangs Gesichtszüge sind etwas Besonders in den Malmö-Aufnahmen, sie fallen auf zwischen all den weißen Gesichtern. Allerdings löst der Film sein Decolonizing-Versprechen nur teilweise ein: Nadine ist die Person, die uns anlockt, der Erzählung zu folgen. Allerdings steht ihre Partnerin, die belgische Sängerin Nelly Mousset-Vos, im Mittelpunkt der Dokumentation – oder eher, die Suche von Nellys Enkelin, Sylvie, danach, wer ihre Großmutter war.

Der Film spielt mit dem Thema von Nadines Nicht-Weiß-Sein, macht damit aber letzten Endes nichts. Mehrfach erwähnt wird hingegen das Kennenlernen von Nelly und Nadine in der Lagerbaracke, als Nelly die berühmte Arie „Eines schönen Tages werden wir sehen“ aus der Puccini-Oper „Madame Butterfly“ singt. Die Oper ist ein klassisches Beispiel der orientalisierenden kolonisierenden Perspektive. In Ravensbrück sind die Rollen jedoch vertauscht: Es ist die Weiße Nelly, die den Butterfly-Part für die Chinesin Nadine singt.

Nadine Hwang (Mitte) zu Beginn von „Nelly & Nadine“.
Nadine Hwang (Mitte) zu Beginn von „Nelly & Nadine“.

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Momente wie diese bieten eine einzigartige Chance der Dekolonialisierung von Holocaustgeschichte, für die Forscher*innen kämpfen. Doch Nadine bleibt in der Darstellung Gerttens eher eine Exotin. Da aber Nellys von ihm zitierte Aufzeichnungen eine ähnliche Perspektive haben und von den Frauen gemeinsam verfasst wurden, sollte man sich fragen: Inwiefern hat Nadine die orientalisierende Sicht auf sich selbst verinnerlicht? Das sind für „Nelly & Nadine“ aber offenbar zu ambitionierte Fragen.

Denn der Film widmet sich vor allem der Bäuerin Sylvie, die nach und nach für sich akzeptiert, dass sie eine lesbische Großmutter hatte, und dass diese Tatsache in der Familie totgeschwiegen wurde. In Paris trifft Sylvie auf die inzwischen verstorbene Biografin Joan Shenkar, die den zentralen Satz des Films sagt: „Nichts ist wirklich, gesellschaftlich gesehen, bis es ausgesprochen wird.“

Magnus Gertten begleitet Sylvie und schubst sie mitunter energetisch, bis diese laut ausspricht, dass ihre Großmutter und Nadine ein Liebespaar waren. Die Heteroperspektive nimmt viel Raum ein, wodurch „Nelly & Nadine“ wie ein Feelgood-Movie für ein heterosexuelles Publikum wirkt, das an die Hand genommen wird und eine romantische Schublade für all seine lesbischen Verwandten bekommt. Das ist im Jahr 2022 ehrlich gesagt für queere Geschichte etwas dürftig. Und doch ist der Film ein Ereignis, denn queere Perspektiven aus dem KZ sind mehrfach stigmatisiert und waren lange unsichtbar.

Nellys Enkelin Sylvie.
Nellys Enkelin Sylvie.

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Allerdings fehlt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Ort, an dem sich die beiden Frauen kennengelernt haben – es ist kein Film über die Lager. Bis auf Shenkar kommen keine Expert*innen zu Wort, obwohl etliche Menschen über Lesben im KZ im Allgemeinen und Nadine Hwang im Besonderen geforscht haben. Allen voran ist hier Suzette Robichon zu nennen, die Doyenne der französischen lesbischen Geschichte.

Genau das, weswegen der Film fasziniert – eine lesbische Liebesgeschichte aus Ravensbrück – genau das bleibt vage. Wir wissen um die brutale Homophobie der Opfergesellschaft, aber wie das Anbandeln der beiden Frauen davon beeinflusst wurde, wird nicht gefragt. Stattdessen sind minutenlange poetische Aufnahmen von Sylvies Hof, den Feldern und charmanten Katzen zu sehen. Gertten, so mein Eindruck, hat den Film an allen Historiker*innen vorbei gemacht.

Der Regisseur hat Unmengen von einzigartigem Material zu lesbischer Geschichte aufgetan, die Super-8-Filme und das unpublizierte Manuskript von Nelly und Nadine, Hunderte Fotos und noch viel mehr liegen bei Sylvie auf dem Bauernhof. Die Historikerin in mir reißt sich die Haare aus, wieso sie nicht archiviert, ausgestellt und publiziert werden. Auf Twitter hat Magnus Gertten geschrieben, dass er keine weiteren Pläne zu Nadine Hwang und dem Material hat.

„Nelly & Nadine“ tippt wichtige Themen an und lässt sie dann wieder fallen. Wir erfahren auch nie, wer das küssende Paar vom Anfang ist. Doch trotz all seiner Lücken und Mängel ist es ein wichtiges und mitreißendes Werk. Wenn künftig Menschen auf Zeugnisse queerer Verwandter treffen, werden sie nach „Nelly & Nadine“ anders mit deren Geschichte umgehen. Und dafür bin ich dankbar.

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