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Nastja Konfederat mit einer Drohne.

© privat

Queers im ukrainischen Militär: Sonst angefeindet, jetzt im Kampf gegen den gemeinsamen Feind

Unter den Militärangehörigen und Freiwilligen, die in der Ukraine gegen die russischen Invasoren kämpfen, sind auch viele aus der LGBTIQ-Community. Wir stellen einige von ihnen vor.

Von Jewgeni Lesnoi

Diesen Text hat Jewgeni Lesnoi im Auftrag des Bündnisses Queere Nothilfe Ukraine geschrieben. Im Tagesspiegel erscheint er etwas gekürzt zum ersten Mal. Im Bündnis Queere Nothilfe Ukraine haben sich verschiedene Organisationen aus der deutschen LGBTIQ*-Community zusammengeschlossen, um queere Menschen in der Ukraine zu unterstützen, die in Not oder auf der Flucht sind.


Der Franzose

Wiktor Pilipenko (Rufname „der Franzose“) hatte sich schon 2016 als erster schwuler Militärangehöriger geoutet. Allerdings hatte er da bereits Veteranen-Status. Bereits am 22. Februar 2022 kehrte Wiktor wieder in die Armee zurück, denn wie viele andere erwartete er eine großangelegte Invasion.

Weil er offen mit seiner Homosexualität umging, schrieben die Medien in der Ukraine über ihn, er war im Fernsehen. Auch in meinem Dokumentarfilm „Dialogues on Dignity“ ist der zu sehen. Es gab schließlich nichts mehr zu verbergen.

Wiktor, der Franzose, im Feld
Wiktor, der Franzose, im Feld

© privat

Als Russland den Krieg auf die gesamte Ukraine ausweitete, interessierte sich niemand mehr dafür, wer mit wem schläft. Die Leute hatten anderes zu tun: Die Existenz der Ukraine war bedroht.

Von Anfang an war Wiktor in der vordersten Linie. Zuerst verteidigte er Kiew, dann kämpfte er bei Irpin. Er war auch bei der Befreiung Butschas dabei, die Stadt, die traurige Berühmtheit in der ganzen Welt erlangt hat.

Homophobie bei seinen Armeekameraden erlebte er einmal, als seine Einheit einen russischen Soldaten gefangen nahm. Der Kommandant witzelte, zuerst solle doch mal der Franzose sein Verhör durchführen – eine Anspielung auf Wiktors sexuelle Orientierung.

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Mit offener Homophobie der ukrainischen Bevölkerung wurde Wiktor konfrontiert, während seine Einheit Ortschaften im Donbass verteidigte. In einem seiner Postings schrieb er, dass ein Bewohner ihn wegen seiner Homosexualität angesprochen und ihm unverhohlen gedroht hatte.

Doch seine Kameraden standen ihm bei und klärten den unverschämten homophoben Bewohner schnell über die „Verhaltensregeln gegenüber ukrainischen Militärangehörigen“ auf. Weil Wiktor die Ukraine und die Ukrainer*innen vor der so genannten „russischen Welt“ schützt, schützt er auch sich selbst und seine Zukunft.

Denn die Zukunft der Ukraine ist das tolerante Europa mit gleichen Rechten für alle. Deshalb unterschrieb Wiktor einen Appell an Präsident Selenskyj, gleichgeschlechtliche Ehen zu legalisieren. Erstaunlich, dass dieser Appell innerhalb von zwei Wochen die notwendigen 25.000 Unterschriften auf der Webseite des Präsidenten erhielt. Vor der Ausweitung der Invasion wäre das wohl kaum möglich gewesen.

Wiktor hat seine große Liebe noch nicht getroffen. Inzwischen gründete er die Vereinigung „LGBTIQ*-Militärangehörige für gleiche Rechte“. Er weiß genau, wie viele von ihnen ihr Leben an der Front riskieren, während ihre Lebenspartner*innen zu Hause auf sie warten.


Antonina und Sascha

Seit neun Jahren sind Antonina und Sascha ein Paar. In der territorialen Verteidigungseinheit des ukrainischen Militärs sind sie seit sieben Monaten ebenfalls gemeinsam aktiv. Antonina Romanowa ist eine nichtbinäre Person.

Noch als schwuler Mann lernte Antonina Sascha kennen. Jahre später wurde sie sich ihrer Identität bewusst. Sascha schreckte das nicht; er musste sich nur daran gewöhnen, seinen geliebten Menschen nun in der weiblichen Form anzusprechen.

Antonina benutzt beim Militär ihren richtigen Namen.
Antonina benutzt beim Militär ihren richtigen Namen.

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Bis zur Invasion arbeiteten sie beide fürs Theater. Gemeinsam entwickelten sie konzeptuelles Theater, Performances. Schon am dritten Tag nach Invasionsbeginn der russischen Truppen in der Ukraine meldeten sie sich zusammen bei der territorialen Verteidigungseinheit Kyjiws.

Antonina sagt, da habe es nicht viele Wahlmöglichkeiten gegeben. Etwa zitternd zu Hause sitzen und sich vor den russischen Raketen verstecken? Sie hatten sich vor dem 24. Februar kaum vorstellen können, jemals eine Waffe in die Hand zu nehmen.

Als sie zur territorialen Verteidigungseinheit kamen, beschlossen sie, sich nicht zu verstecken. Antoninas Traum erfüllte sich mit ihrem ersten Rufnamen (jeder Militärangehörige muss einen Rufnamen haben) – Antonina. In ihren Dokumenten steht bisher noch ein männlicher Name, doch sie ist überzeugt, dass das nur eine Frage der Zeit ist.

Zunächst wurde das Paar in Kiew stationiert und geschult. Sie lernten, mit Waffen umzugehen, Schützengräben auszuheben und sich vor russischen Drohnen zu verstecken.

Dann wurden sie an die südliche Front verlegt. Jetzt kämpfen Sascha und Antonina bei Cherson. Antonina wurde am Granatwerfer ausgebildet.

Sascha mit einer Waffe
Sascha mit einer Waffe

© privat

Die ganze LGBTIQ*-Community unterstützt die beiden. Geld für ihre Uniformen, Panzerwesten und andere im Krieg wichtige Dinge wurde gesammelt. Antonina freut sich sehr, an der südlichen Front zu sein, denn sie kommt von der Krim. Nach deren Annexion durch die Russen 2014 musste sie ihr Zuhause verlassen. Sie träumt davon, mit der ukrainischen Flagge auf ihre geliebte Krim zurückzukehren.

Beide fürchten allerdings, dass die bzw. der andere umkommen könnte. Dann stünde der/dem Überlebenden laut Gesetz keine staatliche Hilfe zu, denn bisher gibt es in der Ukraine keine gesetzliche Regelung für sie. Sie erwarten, dass in der Ukraine demnächst ein Gesetz über gleichgeschlechtliche Ehen erlassen wird.


Nastja Konfederat, die Luftaufklärerin

Schon seit 2014 unterstützte Nastja die Armee als Freiwillige, indem sie ihre Drohnen zur Luftaufklärung einsetzte. Seit März 2022 gehört sie ganz den Streitkräften der Ukraine an.

Mit ihren Armeekamerad*innen spricht sie eigentlich nicht über ihr persönliches Leben. Doch im täglichen Miteinander Seite an Seite nimmt auch die Offenheit zu. So erfuhr sie, dass mit ihr auch Eltern offen lebender LGBTIQ*-Menschen im Einsatz waren.

Nastja Konfederat im Einsatz
Nastja Konfederat im Einsatz

© privat

Mit Homophobie hatte sie bisher noch nicht zu tun. In ihrer Anwesenheit traut sich niemand, etwas Abschätziges zu äußern. Sicher ist das nur als begrenzter Waffenstillstand anzusehen, da nun gerade die Russen der Hauptfeind sind. Sogar die hartnäckigsten homophoben Leute in der Armee brauchen jetzt Nastjas Luftaufklärungsdaten.


Artur Antonschtschuk, der Rettungssanitäter

Schon seit einigen Jahren ist Artur beim Militär. Zunächst war er 2016 bis 2019 im Einsatz. Nach einer Verwundung wurde er Reservist. Einige Monate vor der Invasion entschloss er sich, zur ukrainischen Armee zurückzukehren.

Anders als die oben beschriebenen Kamerad*innen hatte Artur sich nie geoutet. Er ging nicht auf Gleichstellungsmärsche, verschwieg seine sexuelle Orientierung. Doch alle im Bataillon nannten ihn zärtlich „Mama“, weil er so fürsorglich war.

Artur outete sich bei seinen Kamerad*innen.
Artur outete sich bei seinen Kamerad*innen.

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Sein Coming-out hatte er nach Beginn der großangelegten Invasion der russischen Truppen in die Ukraine. Welchen Sinn machte es denn noch, Versteck zu spielen? Er hatte ja nur das eine Leben, und es konnte jeden Moment zu Ende sein.

In Arturs Einheit wurde das Coming-out sehr gelassen aufgenommen: „Das ist deine Sache, es ist dein Leben. Im Gefecht sind wir alle gleich.“

Artur ist überzeugt, dass sich das Leben der LGBTIQ*-Menschen in der Ukraine verbessern wird, sobald die Russen aus der Ukraine verjagt sind. Die Homophobie wird verschwinden, glaubt er. Vielleicht nicht ganz, doch zumindest werde es keine radikalen Gruppierungen mehr geben, die Queers verprügeln.


Sascha Danilin alias Marlene Skandal, Dragqueen

Sascha kennen viele, denn er ist ein Star in den Clubs der gesamten Ukraine – sowohl in der LGBTIQ*-Szene als auch in gewöhnlichen Lokalen. Die Bühne betritt er als Drag-Diva Marlene Skandal. Seit fünf Jahren gehört Aktivismus zu seinem Leben. Als Marlene ist ein fester Bestandteil des Gleichstellungsmarsches. Doch seit dem 24. Februar ist den Ukrainer*innen nicht nach Unterhaltung zumute.

Marlen Skandal bei einer Pride-Veranstaltung
Marlen Skandal bei einer Pride-Veranstaltung

© privat

Sascha schaltete sich gleich in den Informationskrieg ein. Allabendlich ging er mit seinem Instagram-Kanal auf Sendung, sein Tagebuch „Kiew unter Belagerung“ hat zehntausende Abonnenten. Die Russen wurden aus Kiew verjagt, und Sascha ist jetzt als Freiwilliger aktiv. Seine kleine Wohnung verwandelte sich in ein Lager für Hilfsgüter. Dank seiner Bekanntheit sammelt Sascha für Menschen, die aus dem Donbas weggezogen sind.

Für ihn spielt es keine Rolle, ob Leute zur LGBTIQ*-Community gehören oder nicht. Sie sind Ukrainer*innen und haben Schlimmes erlebt. Weil er eine Behinderung hat, durfte Sascha aus der Ukraine ausreisen. Beim Pride-Marsch in Warschau lief er mit der ukrainischen Gruppe. Obwohl er hätte bleiben können, fuhr er wieder zurück in die Ukraine, denn dort gab es für ihn Wichtiges zu tun.


Jewgeni und Ljoscha – eine Familie, zwei Freiwillige

Nun erlaube ich mir, über mich selbst und meinen Mann zu schreiben. Ich bin ein 48 Jahre alter Mann, mein Mann Ljoscha ist 15 Jahre jünger. Wir sind seit viereinhalb Jahren zusammen. Wir haben uns im Staat Utah, USA, standesamtlich trauen lassen.

Im August 2015 zog ich aus Russland in die Ukraine. Ich floh vor dem Putin-Regime, weil ich mit der Annexion der Krim nicht einverstanden war. 2017 erhielt ich die ukrainische Staatsangehörigkeit, denn meine Mutter stammt aus der Ukraine.

Nach Beginn der Invasion näherte sich der Feind schnell Kiew. Ljoscha und ich beschlossen, dass wir nicht fliehen wollten. Solange unsere Wohnanlage nicht von der Artillerie beschossen würde, wollten wir dort helfen. Am ersten Tag an meldeten wir uns als Freiwillige.

Jewgeni (vorn) beim Verteilen von Hilfsgütern
Jewgeni (vorn) beim Verteilen von Hilfsgütern

© privat

Zunächst organisierten wir die Verteidigung unserer Wohnanlage, dann transportierten wir humanitäre Hilfsgüter. Dabei hatten wir stets nur einen Gedanken im Kopf: Wir glauben an die ukrainischen Streitkräfte. Wir werden siegen! Angst war natürlich immer dabei. Denn wenn die russischen Truppen unser Dorf (in einem Kiewer Außenbezirk) erobern würden, dann würden sie mich als einen der Ersten an einer Birke aufhängen.

Erstens bin ein ehemaliger Russe, der ihre „russische Welt“ ablehnt, und zweitens ein offen schwul lebender Mann. Ljoscha und ich haben immer offen gelebt. Die Leute in unserer Wohnanlage und in der Arbeit, alle unsere Freunde wussten von uns. Wir haben die Petition für die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen auf der Internetseite des ukrainischen Präsidenten unterzeichnet.

Bislang ist das Gesetz noch nicht unterschrieben, und so habe ich vor einer Reise in das frontnahe Nikolajew (mit humanitären Hilfsgütern) mein Testament für meinen Mann geschrieben, denn bisher ist das ja das einzige, was ich tun kann…

Angst ist ein Gefühl, das jeder vernünftige Mensch kennt. Und natürlich haben alle hier vorgestellten Menschen Angst. Entgegen der landläufigen Meinung, dass LGBTIQ* schwach, zerbrechlich und unfähig sind, für sich selbst einzustehen, setzen sie sogar ihr Leben aufs Spiel. Und sie wollen in ihrem Land frei und gleichberechtigt sein.

Hier wurden nur sieben Geschichten erzählt. Sie dürfen mir aber glauben, dass jetzt alle LGBTIQ*-Menschen der Ukraine für ihr Land kämpfen. Die einen an der Front, die anderen im Hinterland. Denn wir alle sind zuerst Ukrainer. Und dann natürlich auch LGBTIQ*-Menschen.

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