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Elch

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Kanada: Der mit dem Elch spricht

Indianische Wildhüter weisen den Weg durch die Wälder der Halbinsel Gaspésie im nördlichen Québec.

Am Anfang scheint es nur ein Lichtreflex auf der Wasseroberfläche zu sein, ein Sonnenstrahl, der von den dunklen Wellen abprallt. Dann bricht das Wasser auf, ein gewaltiger, schwarz glänzender Rücken taucht auf. Man hört ein tiefes Prustgeräusch, eine meterhohe Fontäne steigt am anderen Ende der Bucht auf. Die eben noch so erwartungsvolle Stille auf dem kleinen Ausflugsschiff weicht großer Aufregung. "Alle festhalten!", ruft der Kapitän, dann fliegt sein wendiges 720-PS-Boot mit 20 Knoten über das Wasser, bis kurz vor den Punkt, an dem jetzt eine weitere Fontäne aufsteigt. Das Boot kommt abrupt zum Stehen, nur wenige Meter von dem Tier entfernt. Ein Buckelwal. Man hört ihn kräftig atmen, die faustgroßen Nasenlöcher auf dem vernarbten Rücken blähen sich. Dann krümmt sich der Wal, pflügt mit dem etwa zehn Meter langen Rücken durchs Wasser, taucht und zeigt zum Abschied seine breite, gezackte Schwanzflosse. Für einen Moment scheint sie wie eine gigantische Hand aus dem Wasser zu winken. Dann entschwindet das Tier Richtung Meeresboden.

Begegnungen wie diese sind auf der Gaspésie alltäglich. An der Atlantikküste der frankophonen kanadischen Provinz Québec können Besucher Wildtiere so nah, zahlreich und zugänglich erleben wie an nur wenigen anderen Orten. Die Halbinsel, die hunderte Kilometer in den Golf von St. Lorenz hinausragt, bietet dank ihrer klimatischen und landschaftlichen Bedingungen einen hervorragenden Lebensraum für Tiere. In den Gewässern fühlen sich Wale und Robben besonders wohl, die Wälder sind ein ideales Revier für Bären, Elche und Stachelschweine. Dazu gesellen sich hunderttausende Seevögel. Die wohl aufregendste Zeit sind die Sommermonate, wenn sich hier vor der Küste des Nationalparks Forillon ungezählte Buckelwale, Blauwale und andere Meeressäuger zur Nahrungssuche versammeln, bevor sie zur Fortpflanzung in südlicheren Gefilden Richtung Florida aufbrechen. Mit etwas Geduld und einem guten Fernglas kann man während einer Wanderung entlang der felsigen Küste selbst vom Ufer aus Dutzende Wale entdecken.

Wer sich von den Großstädten Quebéc City oder Montréal auf die Rundreise durch die Gaspésie begibt, wird schon nach wenigen Stunden durch die ersten Begegnungen mit seltenen Wildtieren belohnt. Die Isle de Lièvre, die Haseninsel inmitten des weiten St. Lorenzstroms, ist bei Tierbeobachtern besonders beliebt. Während der Überfahrt mit dem kleinen Kutter, der täglich Besuchergruppen hinüberschippert, kommt man an plantschenden Robben vorbei, in der Ferne zieht ein knappes Dutzend Belugawale seine Runden. Auf der 13 Kilometer langen, aber nur wenige hundert Meter breiten Insel, die von Naturfreunden gekauft und zum Schutzgebiet erklärt wurde, können Wanderer bei ausgedehnten Tagestouren vor allem tausende Eiderenten beobachten, deren Flaum im Frühling von Naturschützern gesammelt und an Kissenproduzenten verkauft wird, um mit dem erzielten Gewinn das Naturschutzgebiet zu pflegen. Wer länger bleiben will, kann an der Küste zelten oder in der kleinen Herberge ein Zimmer mieten und sich nach den Wanderungen des Tages mit französisch geprägter Feinkost verwöhnen lassen.

Im Bic-Nationalpark, einige Autostunden weiter östlich, kommt der Besucher der Wildnis und ihren Bewohnern mit dem Hochseekajak näher. Kajakführer René Marquis leitet Besucher zwischen schroffen Klippen und unbewohnten Felsinseln hindurch, die wie scharfkantige Skulpturen aus dem kalten Wasser ragen. Während der Besucher in seinem Boot zwischen meterhohen Wellen manövriert, weist der Führer auf Robben und Seevögel hin, erzählt von blutigen Schlachten zwischen verfeindeten Indianerstämmen, die hier vor der Besiedelung durch europäische Einwanderer im 18. Jahrhundert lebten und nach deren Taten eine der Inseln "Massacre Island" genannt wird.

Wer sich auf eine Bergtour mit Wildführer Francis Paradis begibt, versteht schnell, wieso sie ihn in dem kleinen Örtchen Cap-Chat am St. Lorenz-Ufer "Der mit dem Elch spricht" nennen. Tagsüber verdient der Lockenkopf sein Geld als Mathelehrer, abends hingegen vermittelt Paradis Besuchern einen Eindruck von seiner wahren Leidenschaft: Elche. "Dort steht ein großes Weibchen", ruft Paradis, als nach einer Rundtour durch die nebeligen Höhen der Chic-Choc-Berge in der Ferne ein schemenhafter Umriss zu erkennen ist. Leise steigt er aus seinem Geländewagen aus, formt die Hände zu einem Trichter und lässt einen Ruf durch den Nebel schallen, der so wild wie archaisch klingt. Es beginnt mit einem hohen nasalen Jaulton, der langsam in einen tiefen, kehligen Ächzlaut übergeht. Mit Rufen wie diesen könne Francis Paradis Elche bis auf wenige Meter anlocken, hatte man ihn vorher im Ort gepriesen. Das Elchweibchen am Waldrand zeigt sich allerdings wenig bis gar nicht beeindruckt. Nur kurz hebt es seinen wuchtigen Kopf und schaut zu den Besuchern herüber, dann trottet es langsam weiter und verschwindet zwischen den Bäumen. Zwei Mal noch begegnen Paradis und seine Gäste an diesem Tag einem Elch, aber beide Male entschwinden die Tiere in den dichten Wald. Der eindringliche Ton des menschlichen Elchrufes verfolgt die Besucher in der Erinnerung noch Stunden nach der Bergtour.

Zu einem Ausflug auf subarktisch wirkende Felsplateaus locken die Berge des Gaspésie-Nationalparks, die sich im Zentrum der Halbinsel auf einer Fläche von 800 Quadratkilometern mehr als tausend Meter hoch erheben. Park-Chef Francis Boulanger empfiehlt seine Lieblingswanderung auf den Jacques- Cartier-Berg, um den populärsten - und scheuesten - Bewohnern der weitgehend unerschlossenen Gegend näher zu kommen: Rentiere, von denen es hier drei Herden mit insgesamt etwa 230 Tieren gibt. Die Wanderung zu einem ihrer bevorzugten Reviere - nach einer Fahrt über 40 Kilometer Schotterpiste - dauert zwei Stunden und führt durch drei Klimazonen.

Aus einem grünen, fruchtbaren Tal führt der Weg durch zunehmend karge Kiefernwälder und endet auf einem Plateau, auf dem die Flechten auf den scharfkantigen Granitsteinen die einzigen sichtbaren Pflanzen sind. Von Wildhütern aufgeschichtete Steinhügel weisen den Weg zu einem Beobachtungsturm auf dem von kalten Winden umtosten Gipfel. Von hier aus schweift der Blick mit dem Fernglas über karge Gipfel und grüne Täler, die die Landschaft bis zum Horizont ausfüllen. Plötzlich bewegt sich auf einem Bergkamm etwas: Fünf Rentiere grasen in der Sonne, drei Weibchen und zwei Junge. Eine Wildhüterin, die täglich auf dem Aussichtsturm ist, erklärt den Besuchern, wie es kommt, dass die hier geschützten Tiere im Hotel inmitten des Nationalparks auf der Speisekarte stehen: Die Rentiere im Kochtopf kommen aus dem hohen Norden Kanadas, wo es im Gegensatz zum Gaspésie-Nationalpark mehr als genug gebe. Die Population dort müsse sogar durch Abschuss reguliert werden.

Die größte Artenvielfalt der Region erlebt man ein paar Autostunden weiter östlich, im Forillon-Nationalpark. Bei der Wanderung auf den Mont Saint-Alban sind nicht nur Wale und Robben vor der Küste ständige Begleiter. Die Felsen sind voller brütender Vögel, vor allem Möwen, Kormorane und die entfernt an Pinguine erinnernden Lummen. In der Abenddämmerung ist es keine Überraschung, wenn ein Schwarzbär den Wanderweg kreuzt und sich nach einem neugierigen Blick auf die menschlichen Besucher schnell in den Wald zurückzieht. Auf einem Baum sitzt ein Stachelschwein und führt sich mit der Pfote frische Zweige als kleine Mahlzeit zu, seine braun-weißen Stacheln wiegen dabei im Wind.

Plötzlich kracht es im Unterholz, ein dunkler Schatten bricht hervor: Ein Rebhuhn flattert aufgeregt über den Weg, gefolgt von einem Dutzend quiekender Küken. Kurz danach kreuzt ein weiteres Stachelschwein die Route; sobald es der Wanderer gewahr wird, stellt es kampflustig seine spitzen Stacheln auf.

Menschliche Spuren sieht man hier hingegen nur selten. Nur wenige andere Wanderer sind unterwegs. Am Wegesrand stehen hin und wieder Relikte aus früheren Jahrhunderten, die an den Kabeljau-Fang erinnern, der hier bis zum Embargo wegen Überfischung vor 25 Jahren den Lebensunterhalt der meisten Menschen sicherte: halb verfallene hölzerne Seilwinden, Gestelle zum Trocknen des Fisches. Von diesen wenigen menschlichen Zeugnissen abgesehen, hat man das Gefühl, die Tier- und Pflanzenwelt hat sich diese 1970 zum geschützen Nationalpark erklärte Region zurückerobert.

Auf der Bonaventura-Insel, gut eine Stunde südlich des Nationalparks, hört und riecht man schon von Weitem, wer die Herrscher über diesen roten Felsen im St. Lorenz-Golf sind. Das kehlige Krächzen der Basstölpel und der betäubende Geruch von Vogelkot begrüßen den Wanderer, der von dem verlassenen Fischerdorf aus zu den von den Vögeln bewohnten Felsen spaziert. Der Blick auf die Vogelkolonie ist aber auch aus anderen Gründen atemberaubend: Mehr als 100 000 Basstölpel leben hier auf engstem Raum zusammen, jeder von ihnen so groß wie eine gut genährte Gans und mit Flügeln ausgestattet, deren Spannweite fast zwei Meter beträgt. Besucher können bis auf wenige Zentimeter an die Kolonie herantreten, von den Vögeln nur getrennt durch einen kleinen Zaun und ein paar wachsame Wildhüter. Mit aufmerksamen, fast unheimlich leuchtenden hellblauen Augen verfolgen die Vögel jeden Schritt der menschlichen Besucher. Neben den aus tausenden Vogelkehlen kommenden rauen Ruflauten hört man immer wieder knallende Geräusche: Die Vögel schlagen ihre spitzen Schnäbel gegeneinander, mal, um ihre Partner zu erkennen, mal, um ihr kleines Territorium gegen Eindringlinge zu verteidigen.

In fast jedem Nest liegt ein Küken, geschlüpft zwischen Juni und Juli, das die Eltern abwechselnd nach einem Beuteflug mit heraufgewürgtem Fisch versorgen. Während ein Elternteil das Junge schützt und wärmt, stürzt sich der Partner wie ein gefiederter Speer ins Wasser unterhalb der Felsen, um Fische für sich und den Nachwuchs zu fangen. Hin und wieder schwillt das Krächzen zu einem kollektiven Aufschrei an: Wenn ein Vogel bei der Landung seinen Kurs verfehlt und statt neben dem eigenen Nest auf anderen Vögeln landet. Das kann man bei den tollpatschig wirkenden Tieren alle paar Minuten beobachten. Auf der Rückfahrt Richtung Zivilisation, entlang der Walbeobachtungsroute am nördlichen Ufer des St. Lorenz, schließlich eine letzte Begegnung mit den natürlichen Bewohnern der Gaspésie und ihrer Gewässer. Auf der Autofähre von Rimouski nach Fredericstown erschallt unerwartet eine Ansage des Kapitäns: "Belugas steuerbord!" Und tatsächlich: In der Ferne kreuzen die weißen Giganten den Weg des Bootes. Wie ein letzter Gruß aus der Wildnis, bevor die Straße nach Québec City und Montréal zurückführt.

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