zum Hauptinhalt
Schaut himmelwärts. In diesen Tagen und den kommenden Wochen sieht man Kraniche (und Wildgänse) auch über Berlin hinweg ziehen. Oft begleitet von lauten trometenartigen Rufen.

© Reiner Bernhardt, imago

Reise: Guten Flug!

Bevor die Kraniche gen Süden ziehen, rasten sie. Etwa an der Müritz. Dort bieten sie ein tolles Schauspiel.

Der kleine Herr Professor aus Göppingen will es ganz genau wissen: „Warum brüten Kraniche in Mooren, wo es doch nass ist? Wie lange können sie eigentlich fliegen, ohne Halt zu machen? Und suchen die Männer sich jedes Mal ein neues Weibchen, wenn sie im Februar aus Spanien zurückkommen?“ Tim ist zehn und der ganze Stolz seiner Eltern. Er trägt eine blaue Brille, die ihn ein bisschen altklug aussehen lässt – und er fragt dem Führer wahre Löcher in den Bauch. Detlef Drevs jedoch, der Ranger im Nationalpark Müritz, der in Sprache und Aussehen verblüffend dem Schauspieler Manfred Krug ähnelt, nimmt sich alle Zeit der Welt und erklärt dem Kleinen – und damit allen anderen Besuchern – beim Gehen, dass Kraniche bis zu 1700 Kilometer ohne Zwischenstopp zurücklegen können, weil sie die vor dem Zug angelegten Fettvorräte aktivieren, zum Teil sogar auf Eiweiße ihrer inneren Organe zurückgreifen können, dass sie ein Leben lang als Paar zusammenbleiben und in den feuchten Erlenbrüchen und Sümpfen Skandinaviens brüten, weil der Fuchs, ihr Hauptfeind, nur sehr, sehr ungern ins Wasser tapst.

Detlef Drevs mag Fragen. Grundsätzlich, aus pädagogischen Gründen – und immerhin sollen auch die zwei Kilometer Anmarsch vom Nationalpark-Service- Zentrum in Federow zum Rederangsee für die 15 Besucher unterhaltsam gestaltet werden. Immer wieder mal legt er eine Pause ein und erzählt: 300 000 Kraniche werden in den kommenden Wochen auf einer westlichen Route über Norddeutschland nach Spanien ziehen, weitere 100 000 über das Baltikum und Ungarn. 400 Paare brüten an der Müritz, rund 4000 in ganz Mecklenburg-Vorpommern – vier Mal so viele wie 1990.

Drevs zeigt den Horst der Fischadler auf einem Strommast, von dem aus eine Kamera live ins Nationalpark-Zentrum sendet. Drei Junge hat das Paar in diesem Jahr großgezogen. Das Älteste, dessen kuriose Flugversuche auf der Festplatte gespeichert sind, verschwand allerdings irgendwann spurlos. Die anderen vier sind inzwischen aufgebrochen ins Winterquartier nach Kamerun.

„Drei, vier Tage – und weg sind sie“

Allmählich setzt die Dämmerung ein. Der kleine Herr Professor lässt die Gruppe wissen, dass er während der vergangenen zwei Tage schon einige Kraniche gesehen habe. Auf vielen Äckern stehen die aschgrauen, etwa ein Meter hohen Vögel mit der eleganten schwarzen Schleppe herum und picken Weizenkörner, kleine Kartoffeln und Mais. „Aber wenn man aus dem Auto steigt, hauen sie ab.“ Was wiederum nicht gut für sie sei, meint Ranger Drevs. Schließlich würden die Ankömmlinge aus Skandinavien sich hier während drei, vier Wochen die nötige Energie für den Weiterflug anfressen – und jede Störung koste sie Kraft. Wenn im Oktober das Wetter wechsle und stabile Ostwindlagen einträten, könne man beobachten, wie sich einzelne von ihnen immer höher schraubten und die Strömungsverhältnisse prüften – und wenn alles stimme, dann ginge alles sehr, sehr schnell: „Drei, vier Tage – und weg sind sie.“

Schließlich ist die Schutzhütte erreicht. Zwei Kranich-Übernachtungsplätze gibt im Müritzgebiet: Den Rederangsee, an dem nach 16 Uhr nur noch geführte Gruppen zugelassen sind. Und die Halbinsel Großer Schwerin in der Müritz, die man lediglich vom Schiff aus beobachten darf. Rund 30 Menschen aus zwei Gruppen finden auf den beiden Bankreihen Platz. Vor ihnen liegt still der See, dafür gellt der Lärm, der vom anderen Ufer herüberdringt, umso intensiver. Ein Schreien, ein Krächzen, ein Fiepen und Tröten liegt in der Luft, dazwischen ertönen Laute wie aus einer leeren Gießkanne oder Blasversuche eines unmusikalischen Trompeters. „Kraniche sind so laut, weil sie eine über einen Meter lange Luftröhre in einer Doppelschlinge haben, und die wirkt wie eine Resonanzkammer“, weiß der Ranger.

Im Fernglas – nicht vergessen! – ist zu erkennen, dass sich schon Hunderte der grauen Vögel im flachen Wasser niedergelassen haben. Manche baden, andere trocknen sich – so schöne Flügel mit schwarzen Schmuckfedern zeigt man doch gerne einmal vor. Vor dem goldbraun gefärbten Ufer ist die Schwarz-Weiß-Zeichnung der Hälse gut auszumachen. Manchmal leuchtet auch der kahle, rote Punkt auf einem der Köpfe klar herüber. Die große Masse der Tiere im Hintergrund aber verschwimmt zu einem Streifen wie aus weißgrauen Steinblöcken.

In V-Formation zieht ein Trupp von Neuankömmlingen her

„Und warum stehen die jetzt so dicht zusammen?“, interessiert jetzt den kleinen Herrn Professor. „Wenn der Seeadler auftaucht, werden die Schnäbel nach oben gerichtet. So ergibt sich ein wahrer Schutzschild, so wehren sie ihn ab“, sagt Herr Drevs. Und erzählt, wie Kollegen einmal zwei unbedarfte Junge dieser Raubvögel beobachteten, die sich auf eine Kranichgruppe stürzten, heftig Federn lassen mussten und ganz sicher einiges für die Zukunft lernten.

Gute Aussicht im Unterstand
Gute Aussicht im Unterstand

© Lerchenmüller

Der dichte Wald, ein dunkelgrünes Band aus Birken, Erlen und Kiefern, spiegelt sich im Wasser. Ein Fisch springt, dann noch einer und kurz darauf herrscht Aufregung am Himmel. In geordneter V-Formation zieht ein Trupp von Neuankömmlingen von Westen her herein und kündigt sich laut rufend an. Beim Näherkommen löst sich ihre Ordnung auf. Sie gehen in den Sinkflug, kippen ausgleichend nach beiden Seiten, kreisen und fahren die Beine weit nach unten aus, wie Drachenschirmflieger.

Segelnd sinken sie und finden irgendwo noch Platz im dichten Gewühl. Einige, für die niemand zur Seite rückt, müssen durchstarten und zu einem erneuten Versuch ansetzen. Und sofort nach der Landung schalten sie sich mit Lautstärke und Energie in die große Unterhaltung ein.

Faszination Afrika - direkt vor der Haustür

„Die kommen vom Fressen“, teilt der kleine Herr Professor der inzwischen gut amüsierten Gruppe mit. Und hat wieder einmal eine ganz kluge Frage parat: „Wenn jetzt so viel mehr Mais gesät wird als früher, dann müsste das doch gut sein für die Kraniche?“ Ranger Drevs entwirrt komplizierte Zusammenhänge: Zwar fänden sie im Herbst tatsächlich mehr zu fressen als früher – auch wenn viele Bauern dazu übergingen, die Äcker schon zwei, drei Tage nach der Ernte wieder umzupflügen.

Doch die Konzentration auf nur eine Getreideart führe dazu, dass immer mehr Insekten und Kleinlebewesen verschwänden – und die brauchten die Vögel während der Aufzucht im Frühling dringend als tierisches Eiweiß. Wohl auch durch diesen Mangel sei die Zahl der Eier von zwei bis drei pro Nest auf eins bis zwei zurückgegangen.

Der See liegt jetzt wie ein grau-silbernes Tablett. Ein halber Mond tritt heller und heller aus dem blassblauen Himmel. Immer neue Trupps treffen aus allen Himmelsrichtungen ein und suchen sich Platz in der immer dichter stehenden Gruppe. „So etwa 2000 werden es wohl sein“, flüstert der Ranger. Große Schwärme von Vögeln oder Herden von Tieren in freier Wildbahn zu beobachten – das, was für viele Menschen die Faszination Afrikas ausmacht, erleben die Besucher heute Abend quasi vor ihrer Haustüre. „Und von Tag zu Tag werden es mehr“, sagt Detlef Drevs. „Im vergangenen Jahr haben wir hier am 6. Oktober sage und schreibe 8550 Exemplare gezählt.“

Allmählich färbt sich der Himmel bläulich-grau und die Natur pinselt noch ein paar rosa Wölkchen darauf. Der Zustrom neuer Tiere nimmt langsam ab. Ein paar letzte Nachzügler, die von abgelegenen Futterplätzen kommen, fallen noch ein. Dann nimmt auch der Lärm allmählich ab, nur noch vereinzelte, fast verschlafene klingende Rufe dringen herüber. „Die träumen jetzt sicher schon von Spanien“, sagt der kleine Herr Professor und nickt dabei wissend.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false