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Radwandern: Wo Beethoven sich verliebte

Das Münsterland gehört zu den beliebtesten Radregionen Deutschlands. Kenner wählen die „100-Schlösser-Tour“.

Hundert Schlösser warten entlang der Strecke – aber schafft man die an einem Wochenende? Georg Hundt schüttelt den Kopf und sagt lächelnd: „Das wäre selbst für Jan Ullrich in seinen besten Zeiten zu viel gewesen.“ Aber von Münster durchs Steinfurter Land und über die Baumberge wieder zurück, das sei für ein verlängertes Radelwochenende schon okay. Der 54-jährige Chef der Radstation Münster kennt die Routen der Region wie seine Westentasche. „Wir haben 250 Räder im Verleih. Sucht euch was Passendes aus.“ Wir wählen zwei Mountainbikes, unterschreiben den Mietvertrag, kaufen eine Fahrradkarte und starten dann unsere Entdeckungstour durchs Münsterland.

Drei Straßenzüge hinter dem ultramodernen Velo-Stadion tauchen wir ins Mittelalter. Nummer Eins in den Akten des Stadtkonservators ist der St.-Paulus- Dom, dicht gefolgt vom Prinzipalmarkt mit seinen schönen Patrizierhäusern und der Lambertikirche. Noch immer bläst der Türmer dort in luftiger Höhe das Stundenhorn. Das beeindruckende gotische Rathaus am Platz wurde 1648 zum geschichtsträchtigen Ort. Feierlich zog damals das gekrönte Europa in der eichengetäfelten Ratsstube den Schlussstrich unter den 30jährigen Krieg.

Die Muskeln sind noch etwas widerspenstig, es geht nur langsam voran. Aber die Laune hebt sich angesichts des fürstbischöflichen Schlosses am Stadtrand von Münster. Wir radeln entlang wogender Felder und saftiger Weiden nach Altenberge. Auf den ersten Blick präsentiert sich das idyllische Backsteindorf als verträumte Mischung aus Raum und Zeit. Rechts hinter dem „Heimathus“ auf dem Schulhof der Borndalschule dagegen wird es munter. Unter großem Hallo begrüßt uns ein Radlertrupp aus Frankfurt am Main. Gemeinsam steigen wir über eine Wendeltreppe in den Eiskeller der ehemaligen Brauerei Breuning. „Der Keller“, erklärt uns der Fremdenführer, „war einmal so etwas wie das Allerheiligste der Brauerei. Er ist 150 Jahre alt, wurde im Winter mit Eis gefüllt und hielt seine frostige Kälte bis spät in den Herbst.“ So hatte man auch in heißen Sommermonaten die notwendig tiefen Temperaturen, um untergäriges Bier zu brauen.

Die Sonne scheint freundlich, wir gönnen uns eine ausgiebige Brotzeit im Garten vom Bauernhof-Café Dillmann. Entsprechend spät treffen wir in Steinfurt ein, unserem nächsten Quartier. Mit den Worten „Dass Sie noch kommen“, empfängt uns Paul Riehemann, Chef des Posthotels, „wir dachten schon, Sie hätten sich verfahren.“ Und ohne unsere Antwort abzuwarten, zaubert er zwei große Löffel aus der Tasche, gießt Kräuterschnaps hinein und reicht sie uns als Welcome- Drink. „Der Gepäckservice hat die Koffer schon aufs Zimmer gebracht. In einer Viertelstunde gibt’s Abendessen.“ Wir springen unter die Dusche und sitzen 15 Minuten später am Tisch. Die Küche der vormals königlich-preußischen Posthalterei kredenzt Hauben verdächtig leckere münsterländische Kost. Als Vorspeise werden Brote gereicht, belegt mit hausgemachten Wurstspezialitäten. Es folgt die sogenannte Hochzeitssuppe mit Gemüse, Grießklößen und Spargel und als Hauptgericht schließlich Pfeffer-Potthast. Was – wenn man so will – Münsterlands Antwort auf Ungarns Gulaschtöpfe ist.

Anderntags geht es durch die Baumalleen am kleinen Bagno-See entlang zum Steinfurter Schloss. In dem adretten Arrangement aus wasserumspülter Wehrburg, Renaissance, Barock und Fachwerk wohnt tatsächlich noch ein echter Prinz. „Heute“, sagt der Pförtner im Torhaus, „haben wir leider keine Führungen. Aber der Ort Burgsteinfurt ein paar Meter weiter lohnt auch einen Besuch.“ Wir erweisen dem bürgerlichen Pendant des Schlosses die Ehre und radeln dann gemütlich an Bauernhöfen vorbei bis nach Schöppingen. „Wenn ihr in dem Ort seid“, hatte uns Georg Hundt beschworen, „müsst ihr ins Künstlerdorf und vor allem zur Kornbrennerei Sasse.“

Apropos Korn: Lange Zeit war das „westfälische Gedeck“ – ein Pils, ein Korn – so etwas wie die Gralsburg der münsterländischen Trinkkultur. Inzwischen aber hat der Getreideschnaps das Image eines Prolo-Gesöffs, sprich, mit dem Getränk ist kein Staat mehr – also Umsatz – zu machen. Das hatte auch die 1707 gegründete Brennerei Sasse erkannt. In der Probierstube des Familienbetriebs erklärt Marketingleiterin Heike Fischert selbstbewusst: „Heute produzieren wir Klasse statt Masse.“ Dazu wurden die Stahltanks entfernt und durch alte Kupferkessel und Eichenholzfässer ersetzt. Natürlich müssen wir das prämierte Ergebnis probieren.

Auf den Geist aus der Flasche folgt die spirituelle Abgeschiedenheit des ehemaligen Augustinerinnenklosters Aspekt. Wir glauben am Ortseingang schon frommes Gemurmel zu hören, doch der Eindruck täuscht. Bereits im 15. Jahrhundert hatte die Kirche das Kloster in ein adeliges Damenstift umgewandelt. Wer aus aristokratischem Hause stammte und das nötige „Kleingeld“ besaß, wurde hier gern aufgenommen. Ein keusches Leben war den Damen nicht vorgeschrieben. Die Stiftsdame Therese Friedericke von Zandt immerhin hatte eine Affäre mit Ludwig van Beethoven. Sie währte ein gutes halbes Jahr, und so blieb die aristokratische Lady die längste Lebens(abschnitts)partnerin des Komponisten.

Radeln, radeln, radeln – aber mit Genuss und ohne Hektik. Durch die hübschen Backsteinörtchen Osterwink und Hennewich, am Wasserschloss Darfeld vorbei Richtung Billerbeck. Schon von weitem sieht man die schiefergrauen Turmspitzen des Liudger-Doms aus den wogenden Getreidefeldern ragen. Erstaunlich, dass ein Städtchen mit rund

12 000 Einwohnern solch einen gewaltigen Dom besitzt. Der Grund: Der Heilige Liudger, der erste Bischof von Münster, ist im Jahre 809 in der Kapelle (heute im Südturm) gestorben. Bald nach seinem Tod wurde Billerbeck zum Wallfahrtsort – und blühte auf. Rund 1100 Jahre nach dem Begräbnis des Heiligen, Ende des 19. Jahrhunderts, wurde die viertausend Gläubige fassende Kathedrale gebaut.

Nach einem kräftigen Frühstück radeln wir am nächsten Morgen durch die Parklandschaft der westfälischen Bucht über alte Güterwege nach Nottuln. Das barocke „Schöner-Wohnen-Dorf“ mit seiner alten Blaudruckerei ist zu entdecken, bevor zum Westerberg hinaufgestrampelt wird. Oben, auf dem 186 Meter hohen „Mount Everest“ der Baumberge, will der Longinusturm besichtigt werden. Nach einer „Kunstpause“ (sprich: einem Weizenbier) unten im Biergarten schweben wir per Lift den 1897 erbauten Aussichtsklotz hinauf. Von oben wirkt die Landschaft wie ein grüner, sanft gewellter Teppich. 18 Kilometer Luftlinie Richtung Osten, recken sich die romanischen Türme des Münsterländer Doms in den blauen Himmel. Auf halber Strecke liegt Burg Hülshoff. Dort erblickte am 10. Januar 1797 – manche Quellen geben den 12. oder 14. Januar an – Annette von Droste-Hülshoff das Licht der Welt. Neben literarischen Meisterwerken wie „Die Judenbuche“ oder „Der Knabe im Moor“ liegen von ihr auch schwärmerische Beschreibungen übers Münsterland vor. So taucht der Leser der „Westfälischen Schilderungen“ in die Landschaften der Region ein, erfährt etwas über Bauernhöfe und Schlösser – und lernt dazu die freundlichen Münsterländer kennen.

Jetzt aber runter vom Aussichtsturm und rauf aufs Rad – zu Land und Leuten.

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