zum Hauptinhalt
Roger Willemsen, 55, ist Publizist, Autor und Fernsehmoderator. Er hat zahlreiche Texte und Bücher übers Reisen geschrieben, zuletzt erschien im September "Die Enden der Welt".

© promo

Roger Willemsen im Interview: "Ganz Berlin ist eine Peripherie"

Autor und Publizist Roger Willemsen erklärt, was Berlin von Timbuktu unterscheidet, wieso er sich in Neukölln gut auskennt und warum er nach seinem neuen Buch "Die Enden der Welt" erst einmal keine Reisebücher mehr schreiben möchte.

Herr Willemsen, warum ist Berlin eine Reise wert?

Es bleiben immer diese Zonen übrig, die man gern unter Artenschutz stellen möchte, die ein kleinteiliges, geselliges Leben haben. Kleinere Läden, miesere Spielunken, dürftige Restaurants, häufig gebunden an ethnische Vielfalt. Und da sind die Städte am ehesten individuell. Nur in den Kiezen findet man diese Dinge, aber die rentieren sich dann nicht mehr richtig. Da ist das soziale Leben irgendwie ein bisschen ärmlicher, dadurch aber auch dramatischer.

Also ist Berlin wie jede andere Großstadt?

Nein. In anderen Städten würde man sagen: Diese Besonderheiten findet man im Leben in der Peripherie. Die Peripherien gehen in Berlin aber quer durch die ganze Stadt, weil unablässig überall Bruchlinien zu sehen sind. Die existieren vor allem da, wo früher der Todesstreifen war, aber auch wenn man in Neukölln ist. Ich kenne diese Gegend einigermaßen, weil ich dort mal eine Zeitlang gelebt habe – weil ich verliebt war. Ich lebte unter dem Dach in Neukölln, damit ich der Frau, die da vier Monate als Schauspielerin arbeitete, immer nah sein konnte.

Wo war das denn genau?

Oh, wenn ich das wüsste! Wahrscheinlich würde es mir richtig schwer fallen, das wieder zu finden. Es ist auch ungefähr 15 Jahre her. Ich bin vor einiger Zeit mal in einer Berliner Schule aufgetreten und zwar extra in so einer richtigen Ballungszonenschule und habe über Guantanamo erzählt. Das waren genau die Kinder, über die nun immer gesprochen wird. Ich habe sie hellauf wach, interessiert, unheimlich Anteil nehmend, und politisch aufgeweckt empfunden. Das war sehr bewegend.

Die klassische Städtereise geht aber anders: Da heißt es in zwei Tagen mit dem Reiseführer in der Hand alle Sehenswürdigkeiten von der Siegessäule bis zur East-Side-Gallery ablaufen. Da kann man so etwas doch gar nicht finden, oder?

Nein, man muss sich treiben lassen. Das ist das beste Prinzip des Reisens dieser Art. Als ich mein Bangkok-Buch geschrieben habe, bin ich nachts immer an die Endhaltestellen der Buslinien gefahren und habe mich mit dem Strom der nach Hause kehrenden treiben lassen und geguckt, wo die verschwinden. So reise ich auch heute noch gerne. Gerade in Berlin ist das äußerst reizvoll, sich in irgendwelche Bahnen zu setzen und einfach irgendwo auszusteigen, um zu gucken: Was wäre hier? Wie würde man sich hier amüsieren? Wohin ginge man?

Dafür braucht man Zeit und wahrscheinlich auch Geld, oder?

Ich könnte auch umgekehrt argumentieren, denn es ist in mancherlei Hinsicht das preiswerteste Reisen. Ich erinnere mich, dass ich mal mit einem Freund Straßentheater in Wien gemacht habe. Da war ein kleiner Junge, der war vielleicht 13 und hatte weiße Haare und trug bereits einen Anzug. Dieser Junge hat uns vor der Polizei gerettet. Wir wurden verhaftet, weil wir keinen Gewerbeschein hatten, und der hat einfach das Geld schnell geholt und uns mitgenommen. Da stellte sich heraus, dass es ein Hurenkind war. Und der hat uns dann im Stundenhotel einquartiert, das kostete nichts. So etwas wäre nie passiert, wenn ich im Adlon gelebt hätte. Das passiert nur, wenn man sich treiben lässt und ein wenig Courage mitbringt.

Für Ihr Buch „Die Enden der Welt“, das im September erschienen ist, sind Sie an abgelegene, meist exotische Orte wie Kamtschatka, Tonga, Patagonien oder Timbuktu gereist. Es sind nur zwei Großstädte dabei, Bombay und Hongkong. Großstädte und das Ende der Welt, schließt sich das aus?

An den Enden der Welt im offensichtlichen Sinn sammelt sich der Massentourismus. Das ist im Süden Patagoniens so und auch im Süden Südafrikas. Man muss sich manchmal hinter diese Zonen zurückziehen. Eine eigentliche Stadt am Ende der Welt, habe ich so nicht gefunden. Es gibt aber für mich immer diese symbolischen Enden der Welt. In Bombay ist es ein Bordellflur gewesen, an dessen allerhinterster Aussparung ich eine sowohl Aidskranke wie schwachsinnige Prostituierte fand, mit der andere Aidskranke ungeschützten Verkehr haben durften. Die saß da wie ein Orakel und nahm die Männer mal an oder lehnte sie ab. Das war so ein symbolisches Ende der Welt insofern, dass man sagen konnte: Es geht nicht tiefer. Sonst haben die Städte eigentlich nicht den Ausdruck Weltende zu sein. Die haben den Stolz der Stadt, in der alles beginnt, aber nichts endet.

Nach welchen Kriterien haben Sie denn die Orte ausgesucht?

Ich frage mich nach 30 Jahren des Reisens oft: Was ist es eigentlich, das dich anzieht? Ich stelle dann fest, dass mich solche unbehausten Gegenden, in denen die Natur noch in der Offensive ist und nicht wie bei uns in der Defensive, in der Menschen wohnen, die mir auf eigene Weise groß vorgekommen, gesellschaftlich abgewandte Charaktere. Ich habe ein paar solcher Geschichten aus meinen früheren Reisen versammelt, auch aus meinen vielen Notizbüchern von früher. Dann habe ich aber auch eine ganze Menge an Reisen noch extra gemacht. Wie zum Beispiel Kamtschatka, den Nordpol, Tonga, Patagonien, den Ort God’s Window in Südafrika. Die Mehrzahl der Reisen habe ich für das Buch gemacht.

Auch weil es bei vielen der Orte ein Klischee vom Ende der Welt gibt?

Bei einigen sicher, wie beim Nordpol, Südamerika und Südafrika. Bei Kamtschatka wäre ich nicht so sicher. Aber man käme nicht darauf Orvieto ein Ende der Welt zu nennen. Da ist auf dem höchsten Punkt der Stadt ein Dom, einer der ältesten überhaupt, und auf dem gibt es ein jüngstes Gericht. Dort ist mir etwas passiert, das Weltende-Charakter hatte. Ich könnte ja sagen: Jedem sein Ende der Welt. Es ziehe doch jeder los und sage mir, warum Iserlohn das Ende der Welt ist und ich bin gern bereit es zu glauben.

Ist denn tatsächlich alles echt? Viele der Geschichten lesen sich eher wie ein Roman.

Das ist mir klar. Oft es für mich selber fast peinlich gewesen, zu sehen, dass die Wirklichkeit sich manchmal in die Ordnung von Novellen begibt. Eine der dramatischsten Geschichten aus dem Buch ist die Reise zum Nordpol. Da habe ich 80 Zeugen gehabt – wenn an dieser Geschichte irgendetwas nicht stimmen würde, hätte sich einer von denen inzwischen gemeldet. Dass eine Frau ins ewige Eis springen würde, um sich umzubringen. Dass mich die russischen Behörden anschließend befragen würden. Dass das Schiff dabei Schaden nehmen würde, so dass nicht klar war, ob wir den Nordpol überhaupt erreichen würden. Dass die Gruppe dabei zerfällt und eine eigene Dramatik hat, die plötzlich jene von früheren Nordpolexpeditionen aufnimmt. Das alles war nicht inszenierbar, das passiert. Und dass diese Frau dann auch noch eine Zwillingsschwester hat, die ich auf einem Bahnhof sehe, das ist schaurig. Aber gleichzeitig ist es exakt so passiert. Ganz selten habe ich für die Geschichten mal zwei Episoden an einen Ort zusammengezogen oder zwei Personen zu einer Person gemacht.

Ist es die klassische Abenteuerlust, die Sie anzieht?

Irgendwie ist es schon so der altmodische Begriff des Abenteurers, den ich auslebe. Zu meinen ersten richtig frenetischen Lektüren gehörte Jack London, der Abenteuerschriftsteller schlechthin, der aus Goldgräberzonen geschrieben hat und aus polynesischen Südseeinseln. So angeweht zu werden von den Spannungsfeldern der Ferne, sich hinauszusehnen und ferne Dramen sich imaginieren, das motiviert zum Reisen.

Wie reisen Sie denn am liebsten?

Ich habe eigentlich alles schon gemacht. Ich bin auch schon mit einem Dreimastschoner von Borneo aus nach Sulawesi übergesetzt durch eine Straße von Macassar. Die wird sehr heftig von Piraten frequentiert, weil die in drei Jahrestouren von den Philippinen aus abwärts rund um diese riesige Insel Borneo fahren und häufig in die Flussmündungen eindringen, um dort die Orte zu brandschatzen und die Leute zu bestehlen. Das war ein richtig altmodisches Schiff. Ansonsten reise ich meistens mit der Bahn. Dann und wann müssen es auch Flugzeuge sein.

Spricht da Ihr ökologisches Gewissen?

Zumindest fange ich an, sehr viel stärker über die Ökobilanz meiner Reisen nachzudenken. Ich berichte auch von Zerstörungsprozessen, die ich am Nordpol oder in Patagonien gesehen habe. Ich finde, Menschen, die auf diese Weise Einfluss nehmen auf das, was gedacht und was praktiziert wird, die haben eine gewisse Legitimation, solche Reisen anzustellen. Trotzdem überlege ich mir genau, was ich tue, wie oft ich es tue und ob es sich lohnt. Und ich mache mir Gedanken darüber, was ich tun kann, um meine Ökobilanz wieder zu verbessern.

Also doch ein schlechtes Gewissen?

Eine Form von schlechtem Gewissen bleibt. Aber ich würde mir diese Form von Sensibilität auf viele Bereiche des Konsums übertragen wünschen. Meine Ökobilanz ist insofern schon ganz gut, weil ich Solarzellen auf dem Dach habe. Außerdem habe ich keinen Führerschein und belaste damit die Welt schon mal nicht. Aber ich frage mich dann immer auch: Ist die Alternative zu Hause zu bleiben? Für mich liegt diese Form des Reisens in einem wesentlichen Teil hinter mir. Ich werde kein vergleichbares Buch mehr machen. Und ich schwirre nicht mehr in die Welt.

Sind Sie des Reisens letztlich müde?

Wenn ich des Reisens müde wäre, dann litte ich an einer Vitalverstimmung größerer Art. Das wäre wie wenn ich der Kommunikation müde würde. Ich weiß schon eine ganze Reihe von Orten, zu denen ich gern reisen würde. Es gibt immer noch Orte, wie Damaskus oder Odessa, die mich sehr anziehen, wo ich immer das Gefühl habe, es gibt Rätsel zu lösen und etwas Unentziffertes zu entziffern. Aber ich lege die Latte für das, warum ich dorthin reise und wie ich dorthin komme etwas höher. Ich muss auch nicht mehr alle Reisen fürs Schreiben unternehmen.

Es wird also keine Reiseliteratur von Ihnen mehr geben?

Man muss immer abwarten, was an den Orten passiert. Aber ich würde nicht mehr mit dem eigenen Auftrag reisen, unbedingt von dort etwas mitbringen zu müssen. Ich musste tief in die Notizbücher zurück und lauter Material hervorholen, das ich viele Jahre nicht angeschaut hatte. Wenn man schreibt, dann schreibt man nicht unbedingt für die Veröffentlichung. Dann ist das meist eine Lebensäußerung etwas größerer Art. Hier liegen mehrere tausend Seiten an Notizen, die ich überhaupt noch nicht verwendet habe. Vielleicht wird daraus noch etwas, vielleicht aber auch gar nicht.

Das Gespräch führte Anke Myrrhe.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false