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„La Suisse“, das Flaggschiff der Fahrgastflotte auf dem Genfer See.

© Wenzel

Genfer See: Ufer des Geldes

Am Genfer See gibt es Weinberge, Museen, mittelalterliche Dörfer – und viele feine Adressen.

Ein kräftiger Windstoß fegt vom Mont Blanc über die Wellen. Er bricht sich in den Belle-Epoque-Palästen am Ufer und bläht die Schweizer Flagge der „La Suisse“ auf. Mit einem kräftigen Ton aus der Schiffssirene legt der Dampfer ab. Seine mächtigen Schaufelräder wühlen sich durch das Wasser des Genfer Sees. Rechts von dem schwimmenden Oldie pumpt die Jet d’Eau, das Wahrzeichen von Genf, ihre Fontäne in den Alpenhimmel, links rückt das monumentale Palais der Nationen ins Bild.

Ich bin seit gestern in Genf. Nach einem Spaziergang durch die beschauliche Stille der Altstadt mit ihren Kopfsteinpflastergassen, einem Blick auf das massige Glaubensbekenntnis der Cathédrale de St-Pierre und einem ungläubigen Staunen über die sündhaft teuren Labelshops der Rue de Rhône stehe ich jetzt auf dem Sonnendeck der „La Suisse“. Neben mir sitzt Denice. Er wird mir ein paar Tage den Lac Léman – so heißt der Genfer See auf Französisch – und die Umgebung zeigen.

Nach gut einer Stunde Fahrt entlang sanfter Hügel, Weinberge und hübscher Dörfchen erreichen wir Nyon. Das 15 000-Einwohnerstädtchen präsentiert sich als mittelalterliche Mischung aus properen Bürgerhäusern und respektablem Schloss. Im modern gestylten Musée du Léman machen wir uns mit dem Leben in und um den See vertraut. „Auf zu Christian“, sagt Denice und strebt die Hafenpromenade entlang auf ein kleines Steinhäuschen zu. Christian ist Fischer und fährt seit 40 Jahren so gut wie jeden Tag gegen drei Uhr morgens auf den See, wirft seine Netze aus und kehrt vier Stunden später mit reichlich Fisch wieder zurück.

Wir decken uns mit einigen bereits geräucherten Kostproben ein, kaufen in einem Tante-Emma-Lädchen Baguette und weißen Dézaley-Wein und machen es uns oben auf der Schlossterrasse bequem. Denice entkorkt den edlen Tropfen und stößt mit mir auf den tiefblauen See und den eisgepanzerten, 4810 Meter hohen Mont Blanc im Hintergrund an.

Nyon, Rolle, Morges – all diese kleinen Vorzeigestädtchen auf der Route nach Lausanne liegen direkt am Ufer und sind damit in wenigen Minuten vom Anleger aus zu entdecken. In Lausanne jedoch ist Sportsgeist gefragt, hier geht es vom Hafen Ouchy aus entweder mit der Metro oder über enge Gassen zu Fuß – Kopfsteinpflaster! – hinauf in die Cité, das historische Zentrum der Stadt. Rund 200 Meter über dem See thront das wohl schönste Bauwerk der frühgotischen Schweiz, die Kathedrale Notre-Dame.

Nicht weit davon hüllt der Blumen- und Gemüsemarkt das ebenso alte wie dicht gewebte Häusernetz in frische Feld- und Wiesendüfte. Stundenlang könnte man durch die über drei steile Hügel gestülpte und mit Brücken verbundene Kunst- und Universitätsstadt schlendern.

Unten am Hafen deutet Denice auf einen alten Lastensegler. „Das ist die ,La Vaudoise‘, die letzte vom Stapel gelaufene Lateinsegel-Barke. Davon gab es hier früher eine ganze Flotte. Sogar Kühe wurden mit diesen Schiffen zum Almauftrieb transportiert.“ Am Mast der „La Vaudoise“ flattert – kaum zu glauben – eine riesige Totenkopfflagge. „Im Jahr 1144“, erklärt Denice, „bekam Ouchy das Stapelrecht und belegte die Schifffahrt fortan mit kräftigen Warenzöllen. Das brachte den Stadtbewohnern den Spitznamen ,Piraten‘ ein. Heute sind die sogenannten Piraten von Ouchy eine Art Oldtimerclub, der die ,La Vaudoise‘ hegt und pflegt.“

Während das Schiff den Wind zum Vortrieb braucht, stehen die acht historischen Raddampfer der Schifffahrtsgesellschaft Compagnie Générale de Navigation sur le lac Léman (CGN) für das faszinierendste Kapitel der Schweizer Industrialisierungsgeschichte: Vor rund 200 Jahren schwappte die Kunde von einem unbekannten Bergland im Herzen Europas nach England. Schon bald reisten sportlich ambitionierte Briten in die kleine Schweiz und erklommen – man höre und staune – 31 eidgenössische Gipfel als Erstbesteiger. Diese heroischen (Tat-)Orte wollte das adelige London natürlich persönlich kennenlernen. Um Lord und Lady den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten, erbauten die Hoteliers ihre Nobellogen im Empirestil.

Wirklich kommod aber wurde das Reisen erst mit der Erfindung der Dampfmaschine. Im Handumdrehen eroberte die fauchende Kraftquelle die Zeichenbretter der eidgenössischen Tüftler und siehe da, schon bald kringelten überall in der Schweiz Lokomotiven, Schaufelraddampfer, Seilzug- und Zahnradbahnen ihre Wölkchen in den Berghimmel. Die „La Suisse“ selbst lief 1910 vom Stapel. Nachdem die alte Lady in die Jahre gekommen war, wurde der Kessel ihrer Zweizylinder-Heißdampfmaschine zunächst von Kohle auf Schwer- und später auf Leichtöl umgestellt. 2009 schließlich griff die CGN tief in die Firmenkasse und möbelte ihren Flottenprimus für 15 Millionen Franken wieder originalgetreu auf.

Punkt zehn Uhr am nächsten Tag dampft die „La Suisse“ in Ouchy ein. Wir gehen an Bord und wenig später rückt links das Musée Olympique, das Olympiamuseum, ins Bild. Auf das aus weißem Marmor erbaute Schaufenster des Spitzensports folgen schwindelerregend steile Weinberge und Châteaus, wie hineingestreut.

Ob Swatch- oder Rolexträger, jeder, aber auch jeder steht jetzt an der Reling und genießt die Landschaft. Auch die Unesco war vom Ausblick begeistert. Ohne Wenn und Aber hat sie Teile der Region in die Liste ihrer Weltkulturgüter aufgenommen.

Bereits Charlie Chaplin war begeistert... Lesen Sie über die weitere Route auf der zweiten Seite.

Eine Stunde später legt die „La Suisse“ in Vevey an. „Ein hübsches Örtchen“, sagt Denice, „und auch die Wahlheimat vieler Künstler. Charlie Chaplin zum Beispiel wohnte hier 25 Jahre. Und starb hier 1977 im Alter von 88 Jahren.“ Wir fahren weiter zum Château de Chillon. Wieder zieht die Natur alle Register. Palmen und Weinberge schmiegen sich um malerische Buchten, kleine Kurorte und die Perle der Waadtländer Riviera, Montreux, gleiten an den goldenen Namenslettern unseres Belle-Epoche-Dampfers vorbei.

Chillon selbst dagegen ist der Inbegriff einer mittelalterlichen Burg. Das trutzige Bollwerk am Ostufer des Sees gehörte den Grafen und Herzögen von Savoyen, seine Kanonen und Kasematten kontrollierten die Handelswege nach Italien und sorgten für kräftige Zolleinnahmen.

Wer sich dieser savoyischen Geldeintreiberei widersetzte, nicht zahlte, rebellierte oder sich statt zur katholischen Kirche zum Reformator Calvin bekannte, den ließen die Herzöge in Ketten legen und ins Burgverlies werfen. So auch den Genfer Prior François de Bonivard. Bis zu seiner Befreiung 1536 vegetierte er sechs Jahre lang bei Wasser und Brot an einen Ring gekettet vor sich hin. 1816 griff Lord Byron das Thema literarisch auf und verewigte die Leiden des Priors in dem herzergreifenden Epos „The Prisoner of Chillon“.

Viel aparter als die Gewölbe der Festung sind die Weinkeller von Epesses. Nach unserem Besuch in Chillon zirkeln wir im Postbus durch die engen Kurven der Route du Lac in das hoch über dem See gelegene Winzerdörfchen. Auf den Serpentinentanz folgt eine fröhliche Verkostung der lokalen Bacchusprodukte, dann als kulinarische Offenbarung herrlich frische Filets de perche, in Butter geschmorte Eglifilets und Fricassée de porc, Schweineragout.

Kugelrund erreichen wir vier Stunden später in Montreux unser Quartier. Während sich Jazzkneipen, Bars und Diskotheken für die Nachtschwärmer rüsten und die Bronzestatue des legendären Rocksängers und zeitweiligen Montreux-Residenten Freddy Mercury den Hit „We are the Champions“ über die Wogen schmettert, träume ich dem nächsten Tag entgegen. Der Zug zurück nach Genf wird auf jeden Fall pünktlich sein.

Geralt Wenzel

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