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Schottland: Ungeheuerliches am See

Die berühmteste Schottin ist fraglos ein Monster. Schwarz, grau oder grün – da gehen die Augenzeugenberichte auseinander – und bis zu 30 Meter lang.

Die meisten Menschen haben das Seeungeheuer von Loch Ness nur für einen Augenblick auftauchen sehen. Kapitän Edwards hingegen konnte Nessie länger beobachten. Und sogar fotografieren.

George Edwards steht breitbeinig am Steuer seines Expeditionsboots „Nessie Hunter“ (Nessie-Jäger). Ein Mann in den besten Jahren mit dunklen Haaren, vom Wetter gegerbter Haut und einer Sonnenbrille auf der Nase. Beinahe täglich schippert er mit Urlaubern an Bord auf den 37 Kilometer langen und 1500 Meter breiten Loch Ness hinaus. An diesem Morgen ist das Wasser graugrün wie Schieferstein, weiße Schaumkronen kräuseln sich auf den Wellen. Die Passagiere klammern sich an der Reling fest, halten neugierig Ausschau.

„Beim Felsen dort drüben habe ich das Monster zum ersten Mal gesehen“, brüllt Edwards, um das Dröhnen des Bordmotors zu übertönen, und deutet dabei mit der rechten Hand irgendwohin. „Im Sommer 1968, ich war noch ein Schuljunge.“ Die Feriengäste tuscheln ungläubig. „Nessie ist anscheinend schon recht alt“, witzelt ein junger Berliner. Edwards verzieht keine Miene. „In der Tat“, sagt er, „fast 1500 Jahre alt.“

Eine mittelalterliche Chronik überliefert, dass der heilige Columba hier im Jahr 565 von einer gewaltigen Seeschlange angefallen wurde. Von einem Urahn Nessies, vermutet Edwards. Denn dass Seeungeheuer mehr als 1000 Jahre alt werden, glaubt selbst er nicht. Der Skipper geht vielmehr davon aus, dass sich eine ganze Population von Monstern im Loch Ness versteckt hält. Tief genug wäre der See. In seiner Mitte zeigen die Messgeräte der „Nessie Hunter“ eine Wassertiefe von 231 Metern an. „Im Loch Ness könnte man dreimal mehr Menschen versenken, als auf der ganzen Welt leben“, sagt Edwards trocken.

Das geheimnisvolle Foto, das der Bootskapitän geschossen hat, stammt vom 1. November 1989. Er hat es mit einem Reißnagel an eine Bordwand gepinnt: Man sieht einen mächtigen schwarzen Höcker, der aus den Fluten ragt. „Nessies Rücken“, vermutet Edwards. Der Schnappschuss ist allerdings leicht verwackelt. Es könnte auch eine große Boje abgebildet sein.

Dass der Monster-Mythos kein Hirngespinst ist, steht für Edwards jedoch außer Frage. Schließlich habe er Nessie – oder einen ihrer Artgenossen – „in den vergangenen Jahrzehnten 18-mal gesichtet“, verkündet er stolz. Immer gebannter starren die Urlauber aufs Wasser hinaus.

Mehr als tausend Menschen wollen das Monster von Loch Ness bereits gesehen haben. Biologen, Prähistoriker und Geowissenschaftler beschäftigen sich mit dem rätselhaften Wesen und haben ihm den Namen Nessiteras rhombopteryx gegeben. Nessie steht sogar unter Naturschutz – obwohl nach wie vor strittig ist, ob sie existiert.

Manche behaupten, das eigentliche Monster von Loch Ness sei der Tourismus. Etwa eine Million Feriengäste lockt der Nessie-Kult jedes Jahr nach Mittelschottland. Das Dorf Drumnadrochit etwa, nur einen Monstersprung vom Loch entfernt, lebt fast ausschließlich von Nessie. In den Souvenirläden wühlen Urlauber in Monster-Lätzchen, Schoko-Seeschlangen, Nessiejäger- T-Shirts, Zwergnessies in gläsernen Schneekugeln, grünen und rosafarbenen Monster-Stofftieren.

Weltbekannt wurde das Ungeheuer Mitte der 30er Jahre: Im Juli 1933, auf der A 82 am Nordufer des Loch Ness, sichtete ein schottisches Ehepaar von seinem Wagen aus draußen im See eine Art Walrücken. Regionale Zeitungen griffen das Thema auf, Londoner Blättern schickten Reporter – bald darauf reisten Journalisten aus ganz Europa und den USA an. Im Uferschlamm wurde ein Fußabdruck von Nessie entdeckt. Es stellte sich jedoch heraus, dass ihn jemand mit einem Schirmständer in Form eines ausgestopften Nashornfußes in den Boden gedrückt hatte.

Doch es gab auch immer wieder nachdenklich stimmende Berichte von Augenzeugen, die über alle Zweifel erhaben sind. Der ehemalige Polizeiwachtmeister der Loch-Ness-Region etwa soll Nessie Mitte der 60er Jahre beobachtet haben. Und dem Benediktinerpater Gregory erschien am Südzipfel des Sees ein gewaltiges Monster mit einem drei Meter langen Hals.

Nessie hat den Schilderungen zufolge viele unterschiedliche Physiognomien: Von „seeschlangen-“ über „walartig“ und „bojenförmig“ bis hin zu „schwimmender Dinosaurier“ reichen die Beschreibungen. Vielleicht wurden in Drumnadrochit auch aus diesem Grund gleich zwei wuchtige Nessie-Museen errichtet. Dort lernen die Besucher etwa, dass es sich bei dieser Kreatur um einen Plesiosaurus aus dem Mesozoikum handeln könnte.

George Edwards, unser Kapitän, schüttelt da nur den Kopf. Er schlingt gerade das Tau seines Boots um einen Pfeiler am Ufer. Mittagspause. Die Sache mit dem Plesiosaurus sei „sehr unwahrscheinlich“, meint der Skipper. Ein solcher Dino müsste zum Luftholen regelmäßig an die Wasseroberfläche kommen – und Nessie wäre längst gefangen worden. Edwards tippt auf geheimnisvolle Riesenfische, die gelegentlich ihren Rücken zeigen. „Kein wirklich seriöser Experte glaubt heute mehr an einen Dinosaurier mit langem Hals, wie es oft dargestellt wird“, sagt der Kapitän.

Das Uruquart Castle, eine Burgruine aus dem 14. Jahrhundert, thront auf einer Anhöhe über dem Loch Ness. Von hier aus wurden viele berühmte „Nessie-Beweisfotos“ geknipst. Krähen kreisen am Himmel, stoßen ihre Schreie aus. Ginsterbüsche mit goldgelben Blüten rascheln mit Wind. Schafe blöken. Die Wolken hängen tief. Darunter, in mattem Grau, die gewaltigen Wassermassen des Loch Ness. Zwei Segelboote, winzig wie Papierschiffchen, schaukeln auf den Wellen. Und da vorne? Schwimmt dort nicht doch etwas Großes, etwas Dunkles?

Eine Nessie existiert mit Sicherheit: Diese 23 Meter lange lila Seeschlange mit dem imposanten Schwanz und den drei Höckern liegt etwas östlich von Drumnadrochit am Ufer. Gelegentlich lässt der örtliche Tourismusverein das Plastikmonster auf Luftkissen schwimmen. Willie Cameron, ein korpulentes Energiebündel im eleganten blauen Anzug, steht neben der Seeschlange und schwitzt in der Mittagshitze.

Sein Vater Ian, der kürzlich verstarb, habe das echte Monster am 15. Juni 1965 in den Abendstunden beobachtet, als er am Ufer des Loch Ness angelte, erzählt Cameron mit hochrotem Kopf: „Und zwar volle 50 Minuten lang: die längste Nessie-Sichtung aller Zeiten!“ Es sei ein dunkler, mächtiger Höcker gewesen – ähnlich wie auf dem Foto von Kapitän Edwards, knapp 25 Jahre später. Er selbst hingegen, räumt Cameron ein und wischt sich mit einem Seidentaschentuch den Schweiß von der Stirn, habe Nessie nie mit eigenen Augen gesehen.

Willie Cameron ist Geschäftsmann, will noch mehr Touristen in die Schottischen Highlands locken. Sein Slogan lautet: „Mehr als ein Monster!“ Das soll nicht auf die vermeintliche Monsterfamilie im Loch Ness anspielen, sondern auf weitere Attraktionen – neben Nessie: zum Beispiel das große Herbst-Radrennen rund um den See, den Monster-Challenge. Und auf die Whiskeytradition. Allein im Fiddler’s in Drumnadrochit werden mehr als 400 Sorten ausgeschenkt. Und viele behaupten, dieses Getränk sei zumindest mitverantwortlich für die zahlreichen Monster-Sichtungen am Loch Ness.

Dabei ist das Rätsel um das Seeungeheuer nun womöglich gelöst: Der Paläontologe Neil Clark von der Universität Glasgow ist überzeugt, dass ein Zirkuselefant dahinter steckt. Clark machte sich 2004 durch die Entdeckung von Saurierfußspuren auf der Isle of Skye einen Namen. Als Nächstes wollte er Nessie aufspüren. Schon bald kam er jedoch zum Schluss, dass es sich bei diesem Monster von Beginn an um einen Marketingtrick handelte.

In den 30er Jahren, als Nessie populär wurde, machten häufig Zirkusse am Ufer des Loch Ness Station. Und wenn ein Elefant schwimmt, sind nur sein Rüssel, seine Stirn und sein Rücken an der Wasseroberfläche zu sehen, hat der Wissenschaftler festgestellt. Daher könne ein Elefant leicht für ein Seeungeheuer – mit langem Hals und zwei Buckeln – gehalten werden.

Clarks These: Als der Zirkusdirektor Bertram Mills aus London 1933 einen badenden Zirkuselefanten beobachtete, kam er auf die Idee mit dem Seeungeheuer – und schoss gleich ein paar verwackelte „Beweisfotos“. Prompt schrieb er, wohl als PR-Aktion für seinen Zirkus, ein Kopfgeld von 20 000 Pfund für Nessie aus. Mills ging damit kein Risiko ein, denn das vermeintliche Monster war ja bei ihm im Ensemble.

Viele fotografische „Beweise“ für die Existenz von Nessie haben in der Tat eines gemeinsam: Sie stammen aus den 30er Jahren. Und wenn Clark recht behält, zeigen sie schlicht Elefanten aus dem Zirkus Olympia beim Baden im Loch Ness. Dass Nessie bereits in früheren Jahrhunderten gesichtet worden sein soll, hält Neil Clark für kein Gegenargument: Zu fast jedem tiefen See in Schottland gibt es nämlich uralte Legenden über Seeungeheuer. Wahrscheinlich seien viele davon in den Nessie-Mythos mit eingeflossen, sagt der Forscher.

In der Sports Bar, gegenüber dem Friedhof von Drumnadrochit, sitzen mehrere Rentner beim Bier. Das Seeungeheuer? Die Männer schütteln belustigt den Kopf, als seien sie gefragt worden, ob sie an den Weihnachtsmann glaubten. „Ein bisschen viele der Leute, die Nessie gesehen haben wollen, arbeiten im Tourismus“, sagt einer und grinst vielsagend.

Später an diesem Abend jedoch deutet er auf einen Mann mit Seehundschnauzer, der soeben zur Kneipentür hereinkommt: „Ron hatte vor gar nicht langer Zeit ein wirklich ungewöhnliches Erlebnis.“ Der hagere Mann mit dem lichten blonden Haar ist um die 60. Auf sein „Erlebnis“ angesprochen, zieht Ron Fraser den Kopf ein, als wolle er Deckung suchen. Erst nach zahlreichen Überredungskünsten ist er bereit, von seiner seltsamen Begegnung zu berichten.

Fraser arbeitet als Ingenieur, hält Straßen und Brücken instand. Seit Jahrzehnten hat er fast täglich rund um Loch Ness zu tun. Nie war ihm etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Bis zu jenem Sonnabendmorgen im Januar 2006. „So gegen zehn Uhr“, erzählt er, „war ich auf dem Weg zum Golfplatz, völlig nüchtern.“ An einer Baustelle, etwa fünf Meilen westlich von Drumnadrochit, musste er mit dem Auto warten.

Das graublaue Wasser lag ruhig vor ihm – und da erblickte er es plötzlich, das Monster, keine hundert Meter vom Ufer entfernt. "Es war sehr groß und bewegte sich auf mich zu", flüstert der Ingenieur; dann habe es abrupt umgedreht, sei weiter auf den See hinausgeschwommen und wieder untergetaucht. "Es war tiefschwarz", sagt Fraser leise. "Es hatte einen langen, dünnen Hals und einen kleinen Kopf."

Ingenieur Fraser kratzt sich nachdenklich am Schnurrbart. Auch er weiß, dass kaum ein Experte mehr an die Dinosaurier-Theorie glaubt. „Aber ich kann doch nur das berichten“, sagt er getreulich, „was ich mit eigenen Augen gesehen habe.“

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