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Grabstrauß mit persönlicher Widmung.

© Anni Dietzke

Trauer in Coronazeiten: Stell dir vor, es ist Lockdown – und dein Vater stirbt

Warum das Trauern in Zeiten der Pandemie noch schwieriger ist: Unsere Autorin Anni Dietzke erzählt von der schlimmsten Phase ihres Lebens.

An einem Sonntag im April 2020, morgens 8 Uhr: Ich schrecke aus dem Tiefschlaf hoch. Das Telefon klingelt. Meine Mutter ruft an. Ich bin gegen zwei Uhr ins Bett gegangen, lag bis circa halb sechs wach. Es war eine seltsame Nacht. Von einer Seite auf die andere, immer hin und her und her und hin. Nun, nach nur zweieinhalb Stunden Schlaf, ist die Nacht vorbei. Ich drehe das Handy um und will weiterschlafen.

Moment mal: Sonntagmorgen 8 Uhr? In Sekundenbruchteilen wird mir bewusst, dass meine Mutter niemals um diese Uhrzeit anrufen würde. Ich ahne sofort, dass etwas nicht stimmt, rufe sie umgehend zurück. Und da ist er – der Moment, der einfach alles verändert. Der Augenblick, der einfach alles auf den Kopf stellt und meine Welt zum Wanken bringt: „Vati ist gestorben.“

Diese drei Worte entfachen eine Explosion in meinem Kopf. Das einzige, was aus meinem Mund kommt, ist ein verstörendes: „Was?“

In Filmen reagieren die Leute bei schlimmen Nachrichten auch immer mit diesem „Was?“. Ich habe das immer für einen dramaturgisch wertvollen Ausdruck gehalten, um den Spannungsbogen zu sichern. Aber nun wird mir bewusst, dass man offenbar tatsächlich so reagiert. Auf den ersten Satz, der schlimmer nicht sein kann, folgt der zweite. Die Antwort auf mein blödes ‚Was‘: „Er liegt tot im Bett.“

Ich kann es nicht fassen, was sie da sagt. Mein Papa ist gestorben. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Etwa an Corona? Auf dem Totenschein wird stehen: natürlicher Tod.

Woran er wirklich starb, werde ich nie erfahren

Was die genaue Ursache war, werde ich nie erfahren. Seit knapp sechs Wochen bin ich zu diesem Zeitpunkt im Corona-Homeoffice. Draußen blühen die Kirschblüten, der Himmel ist strahlend blau – die für mich schönste Zeit im Jahr. Es ist warm an diesem Sonntag, die Sonne brennt. Doch eins ist eben anders als die Vorjahre: Draußen in der Welt tobt das Coronavirus. In Deutschland haben wir unseren ersten Lockdown.

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Mein Magen dreht sich um, meine Gedanken spielen verrückt. Mein Papa wird noch die nächsten Stunden im Haus bleiben. Er wird erst abends abgeholt. Auch eine Sache, über die ich mir nie Gedanken gemacht habe. Ein Toter darf stundenlang noch im Haus verbleiben?

Diese für mich perverse Vorstellung versuche ich auszublenden. Ich versuche mich darauf zu konzentrieren, wie ich in meinem Zustand eine zweistündige Autofahrt schaffen soll. Ich versuche, meine letzte Kraft zusammenzuhalten. 220km liegen vor mir.

Ich fahre zu ihm - ein Verstoß gegen die Corona-Regeln

In der elften Klasse schrieb ich in Geschichte meine Abschlussarbeit über Grenzflüchtlinge der DDR. Nun fühle ich mich selbst wie ein illegal Einreisender, da mir die Coronamaßnahmen eigentlich eine solche Fahrt verbieten.

Erwarten mich an den Landesgrenzen Kontrollen? Ich erinnere mich an die Geschichten meiner Eltern, wie sie zu DDR-Zeiten überall kontrolliert wurden. Was für sie normal war, löst in mir totale Panik aus. Doch nichts passiert. Nirgendwo wird kontrolliert. Nach zweieinhalb Stunden komme ich mit tränenüberströmtem Gesicht am Elternhaus an. Sechs Stunden habe ich noch mit ihm. Dann wird er für immer weg sein.

Ich bin nicht gläubig erzogen – aber jetzt verstehe ich den Sinn der Rituale

19 Uhr, es ist so weit. Die Männer vom Bestattungsinstitut, stilvoll gekleidet in dunklen Anzügen und gegen meine Erwartung ohne Corona-Schutzmaske, sind nun da. Der bisher schlimmste Moment in meinem Leben bricht an. Ich schlage mich wacker. Funktioniere einfach. Fülle irgendwelche Zettel aus, mache Angaben, spreche Termine ab. Dann wird der Sarg geholt. Meine letzte Möglichkeit, seine kalte Hand zu halten, sein mittlerweile leicht blau gefärbtes Gesicht zu streicheln. Bis zum letzten Augenblick an seiner Seite.

Ich bin nicht gläubig erzogen, habe nie verstanden, warum man Leichen bei einer Beerdigung aufbahrt. Nun verstehe ich es. Und zehre von jeder einzelnen Sekunde, die ich ihn nochmal sehe. Präge mir alles ganz genau ein. Er sieht so friedlich aus. Zehn Tage zuvor stirbt der Vater eines Freundes, vor einem Jahr der eines anderen guten Freundes. Beide Väter sind im Krankenhaus gestorben. An Schläuchen hängend. Ich bin so unfassbar dankbar für diesen Moment jetzt, in dem mein toter Papa wie mein schlafender aussieht.

Anteilnahme und nette Worte helfen tatsächlich

Nach einer Woche Aufenthalt bei meiner Mutter fahre ich zurück nach Berlin. Was ich auch bisher nicht wusste: wenn man als Trauernder zurückbleibt, legt man tatsächlich Wert auf Beileidsbekundungen.

Auf Arbeit bekam eine Kollegin mal Blumen, als ihr Vater verstorben ist. Ich fragte mich damals, ob ihr das irgendwie hilft oder ob das gar noch mehr Trauer auslöst.

Wenige Stunden nach meiner Ankunft in meiner Wohnung kann ich mir die Frage selbst beantworten. Meine beste Freundin hat Blumen geschickt. Zudem eine Karte. Ich breche in Tränen aus, bin einfach nur dankbar. Nie hätte ich für möglich gehalten, wie gut so etwas tut.

Beileidsbekundungen helfen im Trauerprozess.

© Anni Dietzke

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Die Monate vergehen und ich komme mit meinem Verdrängungsmechanismus gut zurecht. Der Lockdown zieht völlig an mir vorbei. An einzelnen Tagen geht es mir sehr schlecht. Aber noch ist Funktionieren angesagt. ADAC kündigen, Versicherungen auflösen, Unterlagen für das Erbnachlassverfahren zusammensuchen. Dinge, von denen ich zum Teil keine Ahnung habe.

Und dann der Schlüsselmoment: im Juli hätten meine Eltern Urlaub in Waren an der Müritz gemacht. Ich hätte sie im dritten Jahr infolge dort besucht und wäre von dort weiter zur Ostsee gefahren. Plötzlich knallt es in meinem Kopf. Kurzschluss. Der ganze Verdrängungsprozess greift nicht mehr. Das Treffen wird nicht stattfinden.

Alle raten: Lenk Dich ab! - Ja, wie denn, wo denn, mit wem denn?

In den Folgemonaten gleiche ich einem emotionalen Wrack. Im Internet lese ich etwas über die Phasen der Trauer, merke aber schnell, dass ich davon nicht allzu viel halte. Ein Zitat der amerikanischen Autorin Nora McInerny trifft es allerdings sehr gut: „Trauern ist wie sich verlieben oder ein Baby bekommen: Man versteht es erst, wenn man es selbst erlebt.“

Von allen Seiten heißt es, ich solle mich ablenken. Während der Coronapandemie aber gar nicht mal so einfach.

Kurz bevor der zweite Lockdown beginnt, erreiche ich meinen Tiefpunkt. Mein Körper kapituliert, ich breche bei einer Autofahrt zusammen, erkranke an Gürtelrose. Der Druck wird kurz vor Weihnachten immer größer. Ich zähle die Tage bis zum Jahreswechsel. Normalerweise würde mein Papa mir um null Uhr an Silvester eine SMS schicken. Das Handy aber bleibt stumm.

Fünf Minuten später vibriert es unaufhörlich. So viele Nachrichten von lieben Menschen. Aus Tränen voller Traurigkeit werden hoffnungsvolle Freudentränen. Alles wird irgendwie wieder gut. Oder zumindest ein wenig besser. Es muss. Auch wenn einer von nun an immer fehlen wird.

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