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Die Viktoria thront auf der Siegessäule mit bestem Blick auf die Stadtgeschichte.

© dpa / Tagesspiegel

Viktorias Blick auf Berlin: Der Platz, den die Engel wählen würden

Die Viktoria am Großen Stern hat schon vieles überstanden: Sommermärchen, Dr. Motte, Obama und Polka bis in die Puppen. Eine Chronik.

Von Andreas Austilat

Welchen Platz würde ein Engel in dieser Stadt wohl wählen, wollte er die Übersicht behalten? Den Fernsehturm am Alexanderplatz vielleicht? Schon ein bisschen weit weg von der Erde. Wim Wenders hat die Frage 1987 in seinem Film „Der Himmel über Berlin“ für sich so beantwortet: Er ließ Bruno Ganz als himmlischen Boten auf der Schulter des goldenen Engels an der Spitze der Siegessäule Platz nehmen. Eine gute Wahl.

Viktoria, genau genommen ist sie kein Engel, sondern eine geflügelte Göttin, thront in gut 60 Metern Höhe über dem Großen Stern mitten im Tiergarten. Könnte sie erzählen, wäre sie eine gute Chronistin der vergangenen Jahrzehnte. Denn wenn es nach ganz großer Bühne verlangte, dann gerne unter ihren Schwingen. Immerhin kann man sie besuchen. Der Eintritt kostet drei Euro, 285 Stufen führen nach oben. Von der Aussichtsplattform geht der Blick Richtung Osten weit über das Brandenburger Tor hinaus, und auf der anderen Seite rüber in die City West.

Unten, um den Sockel herum, tost es währenddessen unablässig. 180 000 Autos umkurven an jedem Tag die Säule. Oft genug geht das schief, der Kreisverkehr liegt in der Unfallstatistik aktuell auf Platz drei.

Der Große Stern ist wie kaum ein anderer Ort in der Stadt geeignet, gewaltige Massen aufzunehmen, mit Goldelse als Fotomotiv in der Mitte. Den Namen bekam sie übrigens schon zu ihrer Einweihung 1873 verpasst - nach einem damals populären Roman. Den Glanz verdankt sie knapp anderthalb Kilo Blattgold, die von Zeit zu Zeit erneuert werden müssen. Zuletzt 2011.

Vor gut 300 Jahren ging alles los

Die Nazis ließen hier im April 1939 auf der von ihnen geschaffenen Ost-West-Achse 40 000 Soldaten viereinhalb Stunden lang vorbeiparadieren, eine Machtdemonstration und Drohung zugleich. 70 Jahre später ging es sehr viel ziviler zu, Barack Obama sprach 2008 vor der Siegessäule zu 200 000 Berlinern, er war noch Präsidentschaftskandidat. Und mit der Loveparade zogen in ihren erfolgreichsten Jahren eine Million Raver vorbei. Angeblich auch das eine Demonstration. Oder doch einfach nur Party mit Happening-Charakter?

Dieser Ort war in seiner Geschichte immer wieder beides, gesuchte Kulisse für politische Symbolik und Partymeile. Das ging bereits los, da dachte noch niemand an die Goldelse. Vor gut 300 Jahren wurde der damals eher kleine Stern von den Gartengestaltern des brandenburgischen Herrscherhauses angelegt, allein schon wegen der vielen Aussichten, die so ein Stern bietet. Sichtachsen waren seinerzeit ungeheuer angesagt.

1. Januar 1873. Als die Siegessäule gebaut wird, steht sie noch nicht am Großen Stern, sondern am Königsplatz, dem heutigen Platz der Republik.
1. Januar 1873. Als die Siegessäule gebaut wird, steht sie noch nicht am Großen Stern, sondern am Königsplatz, dem heutigen Platz der Republik.

© wikipedia

Nach 1800 und damit sehr lange vor den ersten Ravern zog das Berliner Partyvolk zum Tanzen vor die Stadt. Feste Etablissements waren nicht erlaubt, aber Zelte am nahen Spreeufer - die ersten Pop-up-Clubs. Getanzt wurde eine Art Polka, eine ziemlich wilde Angelegenheit. Und weil der Stern mit Skulpturen geschmückt worden war, genannt die Puppen, feierte man eben bis in die Puppen - was gleichzeitig Synonym für den langen Weg hinaus zum Brandenburger Tor wurde. Bis ein Herr Kremser bei dieser Gelegenheit hier den ÖPNV erfand - das war 1825. Seine erste Pferdebahnlinie führte über den Großen Stern bis nach Charlottenburg. Die Puppen waren übrigens aus Sandstein und gingen schnell kaputt. Der Vorwurf damals lautete, Berliner Partyvolk neige zum Vandalismus. Sie wurden dann auf höchsten Befehl abgeräumt und später durch stabilere Statuen ersetzt.

Viktoria ist kein Unschuldsengel

Wer heute durch die Unterführung die Mittelinsel erreicht, der direkte Weg über die bis zu sechs Fahrbahnen wäre viel zu gefährlich, umrundet vermutlich zunächst den Sockel. Auf großen Bronzetafeln sind dort marschierende Soldaten abgebildet, manche jubeln, manche werden verarztet, manche ergeben sich - das sind natürlich die Gegner. Die Tafeln erzählen die Geschichte dreier Kriege, in denen Preußen nacheinander Dänemark, Österreich und Frankreich besiegte. Am Ende stand die Gründung des Reiches, und das feierte sich mit der Errichtung der Säule. Allerdings stand sie zunächst ein paar Hundert Meter weiter weg, auf dem heutigen Platz der Republik.

Viktoria ist kein Unschuldsengel. Sie trägt einen Siegeslorbeer in der einen, eine Standarte mit Eisernem Kreuz in der anderen Hand. Ein Politsymbol eben. Den Schaft ihrer Säule schmücken die vergoldeten Rohre erbeuteter Kanonen. So viel martialische Folklore erregte von Anfang an Widerspruch. Berlin-Tourist Mark Twain notierte bei seinem Besuch 1891: „Das ist der unangenehmste Engel, den ich je getroffen habe.“ Aber der Protest äußerte sich mitunter sehr viel handgreiflicher - nicht immer war klar, was das mit der Goldelse zu tun hat.

6. Februar 1939. Von der „Führertribüne“ am Charlottenburger Tor hat Adolf Hitler einen guten Blick auf die Nazi-Parade – im Jahr des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen. Im Hintergrund: der Große Stern.
6. Februar 1939. Von der „Führertribüne“ am Charlottenburger Tor hat Adolf Hitler einen guten Blick auf die Nazi-Parade – im Jahr des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen. Im Hintergrund: der Große Stern.

© Getty Images

Das erste Attentat wurde schon zur Einweihung 1873 geplant und wieder abgesagt. Die verhinderten Bombenwerfer wussten, dass sie enttarnt waren. 1921 hingegen brannte bereits die Zündschnur. Sie führte zu einem Pappkarton mit der Aufschrift „Dr. Oetkers Backpulver“. Ein Polizist durchtrennte die Lunte. Zu seinem Glück, in dem Karton lagen sechs Kilo Dynamit. Damit wollten die Attentäter die Revolution aus dem November 1918 wieder anfachen. Wirklich knallte es 1991. „Revolutionäre Zellen“ hatten ihre Bombe direkt an einer Stütze der Viktoria abgelegt. Der geplante Sturzflug des Engels sollte den Golfkrieg stoppen, doch die Goldelse schwankte nicht einmal.

Wer sich die Reliefplatten am Säulensockel noch genauer anschaut, kann Lücken, diverse Dellen und Einschusslöcher bemerken, manch einer Figur fehlt ein Arm oder sogar der Kopf. Das waren keine Attentäter, das ist ein Erbe des Zweiten Weltkriegs.

Hitler ließ die Siegessäule versetzen

Erstaunlich, dass die Viktoria den aufrecht überstand, während die Fotos aus jenen Tagen um sie herum Tod und Verwüstung zeigen, kaum ein Baum im Tiergarten stehen blieb. Verantwortlich für ihre herausragende Position waren Adolf Hitler und sein Baumeister Albert Speer. Beide hatten die Säule für zu mickrig befunden. Außerdem stand sie an ihrem alten Standort vor dem Reichstag ihren Plänen im Weg. Dort sollte eine 290 Meter hohe Kuppelhalle entstehen.

Die Siegessäule musste also auf den Großen Stern umziehen, der wurde von 80 auf 200 Meter Durchmesser aufgeblasen, ebenso wie die Ost-West-Achse, heute Straße des 17. Juni. Die Säule wurde um ein Trommelsegment erhöht, damit sie zu den neuen Dimensionen passt.

24. Juni 2006. ]„Zu Gast bei Freunden“: Zur Fußball-WM verwandelt sich die Straße des 17. Juni im Sommer in ein großes Fanfest.
24. Juni 2006. ]„Zu Gast bei Freunden“: Zur Fußball-WM verwandelt sich die Straße des 17. Juni im Sommer in ein großes Fanfest.

© picture-alliance/Gero Breloer dpa/lbn

Die Kuppelhalle wurde nie gebaut, Albert Speers eigenes architektonisches Erbe in Berlin besteht heute im wesentlichen aus den Treppenhäusern, durch die man zur Mittelinsel gelangt. Aber Größenwahn wäre der Siegessäule beinahe zum Verhängnis geworden. Vor allem die Franzosen, die nun als Siegermacht nach Berlin kamen, wollten sie weghaben. Und selbst in Berlins Stadtregierung hatte die Säule als Relikt des Militarismus nun wenige Freunde. „Dem Denkmal haftet etwas Überhebliches an“, hieß es in einem Gutachten.

Es waren die Briten, die zu bedenken gaben, ein Abriss könnte Ressentiments beim besiegten Volk auslösen. Und ob es nicht besser wäre, Viktoria irgendwie zum Friedensengel umzuwidmen.

Schwulen-Treffpunkt und Kulisse zur Paradestrecke

Tatsächlich hatte die Goldelse schon in der Weimarer Zeit ihre zivile Seite gehabt. Noch am Königsplatz galt die markante Säule am Rand des Tiergartens als beliebter Homosexuellen-Treffpunkt. Es sollte allerdings noch eine Weile dauern, bis sie diese Symbolik wiedererlangte. Seit 1984 ist die Siegessäule Namensgeber eines schwul-lesbischen Magazins.

15. Juli 2006. Nachdem die Loveparade zwei Jahre pausiert hatte, kehrt sie unter dem Motto „The Love is Back“ zurück.
15. Juli 2006. Nachdem die Loveparade zwei Jahre pausiert hatte, kehrt sie unter dem Motto „The Love is Back“ zurück.

© picture alliance / dpa

Für die Militärs blieb Viktoria zunächst Kulisse zur Paradestrecke. 1945 marschierten die Alliierten hier gemeinsam mit den Russen, die da noch Sowjets waren, zur Feier ihres Sieges über Nazideutschland. Später, nach dem Mauerbau, paradierten Briten, Amerikaner und Franzosen jedes Jahr vom Charlottenburger Tor bis zum Großen Stern allein. Der Aufmarsch sollte vor allem eines zeigen: Wir bleiben hier. Trotz des martialischen Aufzugs war es eine Art West-Berliner Familienfest. Die letzte Parade fand 1994 statt, diesmal durfte sogar die Bundeswehr mitmachen. Nur die Russen waren wieder nicht eingeladen. Sie marschierten zum Abschied an der Wuhlheide.

Nach dem Krieg hatten die Franzosen den Abriss der Säule nicht durchsetzen können, dafür drei der Bronzereliefs demontiert und nach Paris geschickt. Die Diskussionen um eine Rückgabe endeten erst 1987, die letzte Tafel kam als Geschenk zur 750-Jahr-Feier Berlins. Ein versöhnlicher Abschluss, aber nicht das Ende der Siegessäule als politischem Symbol. Wenngleich ihre Instrumentalisierung zunehmend Eventcharakter bekam.

Die Goldelse wird zur „Gelbelse“

Der diesbezügliche Höhepunkt war an einem Dienstagmorgen im Jahr 2018 erreicht, als Greenpeace-Aktivisten um halb acht in der Früh, mitten im Berufsverkehr, 3500 Liter gelbe Farbe auf dem Großen Stern verschütteteten, aus Protest gegen Kohle und für mehr Sonnenenergie. Die Autos verschmierten die Farbe in alle Richtungen. Von oben sah es jetzt wirklich aus wie ein Stern. Der Tagesspiegel ernannte die Viktoria zur „Gelbelse“, die BSR wischte auf, verteilte dabei 135 000 Liter Wasser und stellte die Rechnung: Knapp 15 000 Euro.

26. Juni 2018. Greenpeace trägt ökologisch abbaubare Farbe auf, um gegen die Klimapolitik der Bundesregierung zu demonstrieren. Das Motto könnte von Dr. Motte sein: „Sonne statt Kohle“.
26. Juni 2018. Greenpeace trägt ökologisch abbaubare Farbe auf, um gegen die Klimapolitik der Bundesregierung zu demonstrieren. Das Motto könnte von Dr. Motte sein: „Sonne statt Kohle“.

© picture alliance/Greenpeace Germany/dpa

Das Dilemma um Obamas Auftritt

Das Ende der politischen Debatte um das Denkmal selbst markierte der Auftritt von Barack Obama 2008. Der hatte am Brandenburger Tor sprechen wollen, doch der Bundesregierung war das zu heikel. Schließlich war das Tor bislang richtigen Präsidenten vorbehalten geblieben, also den Wahlgewinnern.

24. Juli 2008. Senator und Präsidentschaftskandidat Barack Obama spricht zu mehr als 200 000 Menschen: „Jetzt ist die Zeit, neue Brücken zu bauen.“
24. Juli 2008. Senator und Präsidentschaftskandidat Barack Obama spricht zu mehr als 200 000 Menschen: „Jetzt ist die Zeit, neue Brücken zu bauen.“

© AFP

So verfiel man auf den Großen Stern und löste eine wochenlange Diskussion aus. Politiker wie Rainer Brüderle und Heiner Geißler, der immer mal wieder den Abriss forderte, erinnerten an die militaristische Vergangenheit, die in der Öffentlichkeit schon halb vergessen war. Wie würde das im Ausland ankommen, wenn Barack Obama vor den Kanonen spricht, die das Reich einst seinen Nachbarn abgenommen hatte. Obama kam und sprach. 200 000 jubelten ihm zu und keiner interessierte sich für die goldenen Rohre.

Woran erinnern sich heute alle?

Die Umwidmung der Nazi-Triumph-Allee mit Siegessäule und Großem Stern zur Eventmeile war längst in vollem Gange. Vielleicht fing auch sie mit der 750-Jahr-Feier an, als der Platz Kulisse für die „Stadtfestrevuen“ wurde. Im gleichen Jahr führte der Marathon erstmals dort vorbei.

16. September 2018. Der Berlin-Marathon führt über den schönsten Kreisverkehr der Stadt. Eliud Kipchoge aus Kenia stellte hier mit 2:01:39 den Weltrekord auf.
16. September 2018. Der Berlin-Marathon führt über den schönsten Kreisverkehr der Stadt. Eliud Kipchoge aus Kenia stellte hier mit 2:01:39 den Weltrekord auf.

© picture alliance/dpa/Pasul Zinken

Der größte Schritt damals aber war die Loveparade. Auch die inzwischen ein Massenspektakel, zu groß für den Kurfürstendamm, wo sie mal begonnen hatte. 1996 führte sie zum ersten Mal an der Siegessäule vorbei.

Doch das alles wurde 2006 noch übertroffen. Eigentlich sollte Berlin bei der Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland nur eine Nebenrolle spielen. Die Fifa hatte Bedenken angemeldet, der Rasen im Olympiastadion könnte leiden, die Eröffnung fand in München statt. Aber woran erinnern sich heute alle? An die Fanmeile. Sechs Wochen wurde die Straße des 17. Juni für den Verkehr gesperrt, vorher undenkbar. Seitdem ist die Strecke zwischen Brandenburger Tor und Großem Stern Schauplatz der größten Events im Land.

Die Tradition des Feierns bis in die Puppen, sie ist zurückgekehrt. Auch wenn man sich angesichts der Massenaufläufe mit Feuerwerk und Riesenrad manchmal den kleineren Stern zurückwünscht.

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