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Der Handschlag: Begrüßungsformel ohne Zukunft?

© dpa-tmn

Geschütztes Kulturgut?: Warum auch zukünftig auf das Händeschütteln verzichtet werden kann

Die Verweigerung des Handschlags führte bis vor Kurzem zu Sanktionen und Bestrafung. Doch die Krise zeigt: Begrüßungsformen sind wandelbar.

Auf das Händeschütteln angesprochen sagte der führende US-Virologe Anthony Fauci kürzlich: „Ich glaube nicht, dass wir uns jemals wieder die Hand geben sollten.“

Durch den Verzicht, so der Wissenschaftler, könnten wir sowohl die Verbreitung des Coronavirus als auch die saisonalen Grippewellen verhindern. In Europa könnte der medizinisch empfohlene Verzicht einen überfälligen kulturellen Wandel einläuten – er ist dort ohnehin in den vergangenen Jahren zu einer gesellschaftlichen Tretmine geworden.

So wurde 2010 einer algerischen Frau in Frankreich die Einbürgerung verweigert, weil sie dem männlichen Beamten der Präfektur de l’Isère zur Begrüßung nicht die Hand geben wollte.

Im Jahr 2016 weigerte sich ein Standesamt in Brüssel, ein Paar zu trauen, da die Braut es abgelehnt hatte, dem Beamten während der Zeremonie die Hand zu schütteln.

Strafe nach Verweigerung

In den Niederlanden wurde 2017 ein Bewerber nicht als Busfahrer eingestellt – mit der Begründung, er habe weiblichen Fahrgästen und Kolleginnen den Handschlag verweigert.

In der Schweiz führte die Verweigerung selbiger Geste 2018 dazu, dass die Stadt Lausanne einen Einbürgerungsantrag ablehnte. Die Stadt Therwil im Kanton Basel-Landschaft verhängte sogar ein Bußgeld von 5000 Franken plus Sozialarbeit gegen Eltern, deren Kinder sich geweigert hatten, einer Lehrerin in der Schule die Hand zu geben.

Simonetta Sommaruga, heutige Bundesrätin und damalige Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, sagte, das Händeschütteln gehöre „zur Schweizer Kultur“. Die Schulbehörden waren noch eindeutiger: „Lehrer haben das Recht, einen Handschlag zu verlangen.“

Europas härtestes Handschlagsrecht findet sich in Dänemark. Im Dezember 2018 geriet das Thema in die Schlagzeilen, als ein Gesetz verabschiedet wurde, das den Handschlag bei Einbürgerungszeremonien verpflichtend machte.

Einwanderungsministerin Inger Stojberg erklärte: „Wenn man sich nicht die Hand gibt, dann versteht man nicht, was es bedeutet, Däne zu sein.“

Veränderte Normen

Bezeichnenderweise hat Dänemark seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie alle Einbürgerungszeremonien aufgeschoben, um das Infektionsrisiko zu minimieren. Es gilt deshalb für alle, selbst jene, die das Händeschütteln kulturell akzeptieren: „Kein Handschlag, keine Staatsbürgerschaft.“

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog.  Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

In unseren Gesellschaften tun sich viele noch schwer damit, die Weigerung, jemandem die Hand zu geben, zu tolerieren. Sie wird als Widerspruch zu den herrschenden Normen empfunden, es entsteht etwa der Eindruck, Frauen würden nicht als gleichberechtigt angesehen, grundlegende soziale Umgangsformen würden so untergraben.

Solch eine universelle Haltung mag zunächst überzeugen. Und doch kann man sich fragen: Soll unter dem „Schleier des Universalismus“ nicht lediglich ein Grund gesucht werden, sich gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen zu positionieren?

Äußerlich betrachtet ist das Händeschütteln lediglich eine Form der Begrüßung unter vielen. Sie unterscheidet sich nicht grundlegend vom Winken, Lächeln oder Verbeugen. Ellbogenstöße, Kopfnicken oder Luftküsse gehören natürlich auch dazu.

Entscheiduung des Individuums vs. Entscheidung der Gesellschaft

Doch der Handschlag ist für das Miteinander in immer diverseren europäischen Gesellschaften anscheinend unerlässlich geworden.

Das Prinzip des gesellschaftlichen Miteinanders in Europa wurde bereits im Jahr 2014 erschüttert, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das französische Burka-Verbot bestätigte. Das Gericht entschied, dass die Frage, ob es einer Frau erlaubt sein sollte, an öffentlichen Orten einen Vollgesichtsschleier zu tragen, eine „Entscheidung der Gesellschaft“ sei.

Dem Gericht zufolge erfordert gesellschaftliches Miteinander ein staatlich definiertes Mindestmaß an sozialer Interaktion und Gemeinwesen.

Indem er Menschen dazu zu zwingt, örtlichen Gepflogenheiten zu entsprechen – wie sie sich anziehen sollen oder wie sie andere Menschen zu grüßen haben –, schreibt der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern einen bestimmten Lebensstil vor.

Eine Frage der gesellschaftlichen Teilhabe

Doch was in Zeiten vor Corona anscheinend der allgemeingültige europäische Lebensstil war, gilt nun nicht mehr: Das Bedecken des eigenen Gesichts in der Öffentlichkeit ist eine Art Bürgerpflicht zum Schutz von Risikogruppen geworden.

In Österreich, der Slowakei, Deutschland und Frankreich wird das Tragen einer Maske im öffentlichen Raum entweder empfohlen oder gesetzlich vorgeschrieben. Gesichtsmasken ermöglichen es uns nun gewissermaßen erst, am öffentlichen Leben teilzunehmen.

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Und bringt uns zum Kern des Themas: Es geht darum, gesellschaftliche Teilhabe zu erleichtern und nicht darum, ob das Lächeln eines Menschen zu sehen ist; es geht darum, gesellschaftliches Miteinander zu ermöglichen und nicht um eine enge Vorstellung davon, was dieses Zusammenleben ausmacht.

Raum für Alternativen

Die Krise hat unsere zwischenmenschlichen Interaktionen vorübergehend destabilisiert und damit einen Raum dafür geschaffen, über alternative Begrüßungsformen nachzudenken.

Anstatt an bisherigen Konventionen festzuhalten, sollten sich politische Entscheiderinnen und Entscheider in Toleranz üben gegenüber der Vielfalt an Begrüßungsformen und den Begründungen unterschiedlichster Kleiderordnungen.

Schließlich ist ein Handschlag nur Ausdruck des zivilen Anstands, der je nach Kultur und Epoche unterschiedlich ausfallen kann.

Die derzeitige Verpflichtung, sich nicht die Hand zu geben und das Gesicht zu bedecken, zeigt, dass eine Etikette für das Miteinander nicht so unerlässlich ist wie bisher angenommen.

Ashley Mantha-Hollands ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe „Global Citizenship Governance“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Liav Orgad ist Direktor der Gruppe. Beide arbeiten außerdem am European University Institute (EUI) in Florenz.

Ashley Mantha-Hollands, Liav Orgad

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