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Blutiges Berlin. Im echten Leben geht es in der Hauptstadt manchmal ziemlich hart zu. In Romanen aber noch viel öfter.

© imago stock&people

Gnadenlose Hauptstadt?: Wie neue Romane alte Berlin-Klischees befördern

In Berlin wüten Irre, in Hamburg wird höchstens mal ein Fußballer entführt. Zum Bücherfrühling 2020 blüht das Städteklischee. Das hat seine Gründe.

Mit einer Machete richtet der Killer ein Blutbad am Alexanderplatz an. Eine geheime Bruderschaft, zu deren Netzwerk eine renommierte Krebsklinik in Berlin gehört, ist für Verschleppung, Versklavung, Folter und Missbrauch von Kindern und Jugendlichen weltweit verantwortlich. Ein Netz aus Korruption und Gewalt zieht sich bis in die höchsten Kreise der Hauptstadt. Hitler ist zwar tot, aber seine Macht wirkt immer noch. Und eine Stasi-Enthüllung 30 Jahre nach dem Ende der DDR ist der Anfang einer verstörenden Geschichte um eine gefeierte Moderatorin, deren einzige Konsequenz Rache sein kann.

[Mehr über aktuelle Berlin-Bücher und Belletristik allgemein auf unseren Literatur-Sonderseiten.]

Der Berliner Belletristikfrühling 2020 ist nicht besonders sonnig. Was hat die Hauptstadt den Schriftstellerinnen und Schriftstellern dieser Welt nur getan? Sprießen nicht auch bei uns die Schneeglöckchen, sprudelt nicht der Brunnen auf dem Strausberger Platz bald wieder? Doch stattdessen nur Nazis, Stasi-Schergen, Mörder und gesellschaftliche Krisen, wohin man schaut – die Sätze im ersten Absatz stammen allesamt aus Verlagsankündigungen von Romanen, die in Berlin spielen. Einer Stadt, die gegenwärtig offenbar noch tief in der Vergangenheit steckt und zu historischen Erzählungen einlädt.

Immer wieder Weimarer Republik und Nazizeit

Von den gut 60 neuen Berlin-Romanen, die sich in den von Amazon gesammelten Vorschauen der Verlage finden, spielt etwa jeder zweite in der Weimarer Republik, der Nazizeit oder behandelt deren dramatische Folgen. Rund ein Viertel der neuen Berlin-Bücher sind Krimis. Der Rest entfällt auf Beziehungskomödien, psychologische Dramen und Erzählungen aus dem Hauptstadt-Alltag der Gegenwart.

Ganz anders dagegen sieht’s im wohlsituierten Hamburg aus: Die Chefin einer Schokoladen-Dynastie muss zwar schlimme Verluste verkraften, lässt sich jedoch nicht unterkriegen. Drei Freundinnen machen einander bei einem „Mädels-Wochenende“ Mut und stellen sich den Herausforderungen des Lebens. Dackel Herkules und Kater Schröder entdecken die Liebe. Zuversichtliche Unternehmer aus der Hansestadt suchen ihr Glück in Hongkong und Kamerun. Und wenn es dann doch mal kriminell wird, findet sich wie in Sonja Rüthers Thriller „Der Bodyguard“ ein Personenschützer, der gegen alle Regeln verstößt, um das behütete Leben einer äußerst wohlhabenden jungen Frau zu schützen.

„Ein Gegner, dem alles recht ist, um eine neue Weltordnung zu errichten“

NS-Zeit und Weimarer Republik haben zudem in Blankenese kaum Spuren hinterlassen. Zumindest keine, die sich in den aktuell angekündigten Romanen finden. Stattdessen Familiensagas aus anderen historischen Epochen wie dem 19. Jahrhundert oder der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Liebesgeschichten, immer wieder auch Familiendramen vor der Obstbaum-Kulisse des Alten Landes. Und wenn in der Geschichte ein Geflüchteter aus fernen Ländern auftaucht, dann ist das in Hamburg der Auftakt einer bewegenden Beziehungsgeschichte – so in Lutz van Dijks Erzählung „Kampala – Hamburg. Roman einer Flucht“.

Nur knapp zwei ICE-Stunden vom Dammtor entfernt führt die Begegnung mit einem IS-Rückkehrer aus Syrien zum Kampf mit einem Gegner, „dem alles recht ist, um eine neue Weltordnung zu errichten“, nachzulesen in Tom Chatfields in Kürze erscheinendem Berliner Hacker-Thriller „Hier ist Gomorrha“.

Tor zur Welt, Tor zur Unterwelt

Hamburg ist nicht nur das Tor zur Welt, sondern offenbar auch die perfekte Kulisse, um sich etwas „Wellness für die Seele“ zu gönnen, wie ein dort spielender Roman der Autorin Gabriella Engelmann angepriesen wird. Berlin dagegen scheint sich vor allem als das Tor zur Unterwelt anzubieten, als Stadt „voller menschlicher Abgründe und düsterer Seiten“ (Verlagsankündigung von Katja Bohnetts Thriller „Fallen und Sterben“), in der sich „politische Wirrnisse mit persönlichen Schicksalen verknüpfen“ (Iny Lorentz: „Glanz der Ferne“).

Auch die vergleichsweise wenigen neuen Krimis, die an der Alster spielen, wirken im Verhältnis zu ihren harten Verwandten von der Spree bemerkenswert harmlos: In Berlin ritzen Mörder ihren Opfern mysteriöse Zeichen in die Haut, psychopathische Killer und kaltblütige Serientäter sind der Polizei immer einen Schritt voraus. In Hamburg wird höchstens mal ein Fußballer entführt oder eine reiche Kunsthistorikerin gerät in einen Morast aus hanseatischem Snobismus, Geldgier und Betrug. Heroin-Chic versus Hermès-Tuch: Das Klischee, und das ist jetzt wahrscheinlich eine typische Berliner Einschätzung, ist nicht totzukriegen.

„Berlin gilt immer noch als gefährliches Pflaster“

Aus Sicht von Verlagen hat jede der beiden Städte ein klar voneinander abgegrenztes Image. „Berlin gilt immer noch als gefährliches Pflaster, als düster und schnell“, sagt Natalja Schmidt, Leiterin für Belletristik bei der Verlagsgruppe Droemer Knaur. „Die Stadt bietet sich für actionreiche Geschichten oder Thriller an.“

Wie gut sie sich zudem als Hintergrund für harte historische Stoffe eigne, zeige der Erfolg der Fernsehserie „Babylon Berlin“. Sie basiert auf Volker Kutschers populärem Kriminalroman „Der nasse Fisch“, dem Auftakt der Ende der 1920er Jahre angesiedelten Serie um den Kriminalkommissar Gereon Rath. Ein Erfolg, an den aktuelle Titel anzuknüpfen versuchen wie der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg spielende Thriller „Pandora – Auf den Trümmern von Berlin“ von Liv Amber und Alexander Berg, der gerade erschienen ist. Wenn Autorinnen und Autoren auf der Suche nach spannenden Hintergründen für ihre Erzählungen sind, ist dieses historische Image „viel wirkmächtiger als das offene, coole, hippe Berlin“ der Gegenwart, sagt Natalja Schmidt.

Hamburg hingegen stehe bis heute für Themen wie Auswandern oder Aufbruch in ein neues Leben. Die Metropole verbinde man mit dem Image einer toleranten, offenen Hafenstadt, in der traditionell Kaufmannsfamilien zu Hause sind.

Wo ein Roman spielt, sei allerdings letztlich keine Entscheidung der Verlage, sondern der Autorinnen und Autoren, betont Schmidt: „Ich als Lektorin würde nie sagen: Das ist so blutig, willst du das nicht nach Berlin verlegen?“

„Rattenflut“ gegen „Dackelliebe“

Die Buchtitel verstärken die markanten Unterschiede durch Wortwahl und Design: Neue oder demnächst erscheinende Berlin-Romane heißen „Rattenflut“ und „Hungerwinter“ oder „Rot ist die Rache“. Hamburg-Romane heißen „Zauberblütenzeit“ und „Der mutige Weg“, „Töchter der Elbchaussee“, „Dackelliebe“ – und wenn’s mal hart auf hart kommt: „Elbfinsternis“.

Die Gestaltung der Titelbilder bekräftigt den Eindruck. Die auf vielen aktuellen Berlin-Romanen dominierende Farbmischung ist ein düsteres Grau-Schwarz, gefolgt von einem aggressiven Schwarz-Rot, einem dunklen Blau-Grau und einem tiefen Schwarz. Hamburg-Bücher hingegen tragen mit Vorliebe ein beiges, rosa oder blumenbuntes Cover.

Natürlich gibt es auch ein paar Ausreißer. So erzählen Berlin-Trilogien wie „Glanz der Ferne“ des Schriftsteller-Ehepaars Iny Klocke und Elmar Wohlrath, besser bekannt unter dem Pseudonym Iny Lorentz, oder Brigitte Riebes „Die Schwestern vom Ku’damm“ Geschichten von Kaufmanns- und Fabrikantenfamilien, die sich in mondänen Kreisen der hochgeborenen Gesellschaft bewegen und das Leben genießen. Für aktuelle Romane, die an der Spree spielen, ist das ungewöhnlich. Vielleicht liegt’s an den Autorinnen und Autoren dieser Erzählungen, von denen in diesem Frühjahr jeweils der Abschlussband erscheint: Die leben in beiden Fällen in München.

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