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Neuss.

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Wolfgang Neuss: Das Blitzlicht der Frechheit

Wolfgang Neuss, der im Mai 1989 starb, wurde steinreich als Star des Nachkriegskinos. Dann kamen Apo, Witz, Drogen und die Armut. Vom Leben einer Legende.

1988

Wolfgang Neuss tritt zum letzten Mal auf, am 3. Dezember, seinem 65. Geburtstag. In der Berliner Ufa-Fabrik. Eigentlich soll er nur kurz seinen alten Film „Wir Kellerkinder“ anmoderieren. Es wird eine einstündige Performance.

Neuss hat Leberkrebs. Nur wenige wissen das. Er besitzt kaum noch Zähne und trägt eine fettige Mähne. Neuss lebt von Sozialhilfe, für die Wohnung in der Lohmeyerstraße, Neubau, muss er nichts zahlen. Sie gehört dem Bruder seiner Exfreundin, einem Hamburger Anwalt.

Neuss kifft wie ein Weltmeister, das dämpft auch die Schmerzen. Außerdem wirft er LSD ein. Aber das Gehirn funktioniert noch, mehr oder weniger. Es reicht für Kolumnen in der „taz“, die in Wahrheit aber eher sein Redakteur nach Tonbandprotokollen verfasst und die nicht sehr gut sind. Live ist er noch fast wie früher. Und er schreibt in dieser letzten Phase noch einmal, zum dritten Mal, Fernsehgeschichte. Vor Kameras liefert er mit dem Regierenden Bürgermeister Richard von Weizsäcker einen hinreißenden Dialog ab, der feine Herr und der Freak, der sein Gegenüber immer nur „Ritschie“ nennt und dabei den Satz sagt: „Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen.“ Das gilt bis heute als einer der besten TV-Momente der 80er Jahre.

Es ist viel falsche Drogenromantik zu finden in den Beschreibungen dieser späten Jahre. Neuss, der letzte Hippie, der erste Punk. Es gibt sogar ein Theaterstück über ihn, die interessante Ruine.

Neuss’ Wohnung, fast ohne Möbel, meistens dunkel, ist Anlaufstelle für die Größen der Kleinkunst, sie kommen fast alle, Werner Schneyder, Gerhard Polt, Dieter Hildebrandt, sie kommen, hocken sich vor seiner Matratze auf den Boden, hören den halb wirren, halb genialen Monologen zu und schreiben Pointen mit. Hin und wieder kommt etwas wirklich Witziges. Die Grünen, noch ganz frisch, nennt er zum Beispiel, wegen ihres manchmal aggressiven Moralismus, „säkularisierte Muslime“. Zuhören kostet, je nach Gast, 50 oder 100 Mark. So verdient er das Geld für den Stoff.

In der Wohnung hängt ein Bild, das viele Gäste nicht einordnen können. Es zeigt einen Kampfflieger in Uniform, den Freiherrn von Richthofen, genannt der „Rote Baron“.

Wolfgang Neuss kommt aus dem Krieg und geht dann den Weg der westdeutschen Republik Schritt für Schritt mit. Vom Soldaten zum Helden des Wirtschaftswunders. Vom Wirtschaftswunder zur Apo. Von der Apo zweigt er ab ins Nirwana der Aussteiger. Weiter auf dem Weg der Selbstauslöschung ist kaum einer gegangen als Neuss, geboren in Breslau, gestorben am 5. Mai 1989 in Berlin, kurz vor dem Fall der Mauer.

„Heut’ mach ich mir kein Abendbrot, heut mach ich mir Gedanken“, den Satz von ihm kennt ja nun fast jeder. Der bleibt auf jeden Fall.

1943

Wolfgang Neuß, damals noch mit Esszett, Kämpfer an der Ostfront, Schütze am Maschinengewehr, Eisernes Kreuz erster und zweiter Klasse, Sohn eines Fliegeroffiziers aus dem Geschwader Richthofen, schießt sich vorsätzlich den linken Zeigefinger ab. Er hat vom Krieg die Nase voll. Im Lazarett tritt er als Parodist und Pantomime auf, von da an ist er in der Truppenbetreuung tätig.

Diese Version hat er gern erzählt. Vieles spricht dafür, dass sie erfunden ist. In einem Interview, einem einzigen, gibt er es auch zu. Bei „Selbstverstümmelung“, wie es offiziell hieß, waren die Nazis unerbittlich. Da hieß die Antwort nicht Spaß-, sondern Strafbataillon, der fast sichere Tod. Linker Zeigefinger weg, ein Klassiker der Selbstverstümmelung.

Vieles spricht dafür, dass auch Neuss getan hat, was fast alle deutschen Männer seiner Generation getan haben. Er hat sich seinen Krieg schöngeschminkt, im Grunde war er gar nicht dabei. Niemand war ja dabei.

Neuss hatte die Volksschule abgeschlossen und Schlachter gelernt. Neuss war intelligent, gebildet war er nicht. Er hatte diese schnelle Schnauze. Nach dem Krieg wird er Alleinunterhalter, tingelt angeblich mit dem jungen Freddy Quinn. Als Conférencier im Hamburger Hansa-Theater kommt er dann groß heraus, Ende der 40er Jahre. Die Leute sind hungrig nach Witzen.

1955

Allein in diesem Jahr spielt Neuss in zehn Filmen mit. Der erste heißt „Kiss me, Kate“, ein Musical, in dem er mit seinem Freund Wolfgang Müller ein singendes, tanzendes Duo bildet. Die beiden sind so gut, dass jeder deutsche Regisseur sie plötzlich haben will. Neuss arbeitet meistens mit Müller zusammen. Sie sind Stars. Sie füllen die Waldbühne, 20 000 Zuschauer.

Insgesamt werden es mehr als 50 Filme, einige gute, viele schlechte. Man kann eine Geschichte des westdeutschen Nachkriegsfilms allein aus Filmen mit Wolfgang Neuss zusammenstellen, „Des Teufels General“, „Himmel ohne Sterne“, „Das Mädchen Rosemarie“, „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“... Meistens sind die Rollen klein, und Neuss muss berlinern. Neuss wird so sparsam eingesetzt wie ein scharfes Gewürz. Die deutschen Filme sind meistens bieder, brav und undeutlich. Wolfgang Neuss verhilft ihnen zu unsentimentalen Momenten, er ist ein Blitzlicht der Frechheit.

Dann, in diesem Jahr 1955, schreibt er zum ersten Mal Fernsehgeschichte. Der SFB schaltet eine ARD-Liveübertragung aus, als Neuss auftritt. So etwas geschieht zum ersten Mal. Die Veranstaltung findet im Schöneberger Saal „Prälat“ statt, vor Bundestagsabgeordneten, die ihre Sitzung in West-Berlin mit ein wenig Humor verschönern möchten. Neuss und Müller, Ersterer mit einer Pauke, die sein Markenzeichen ist, wollen sich über die rechte „Deutsche Partei“ lustig machen, die damals im Bundestag sitzt, keine gewagte Sache im Grunde.

Der Intendant des Südwestfunks kennt die Nummer und findet sie zu provokativ, er ruft den ARD-Koordinator an, dieser wiederum ruft den Fernsehchef des SFB an. Neuss und Müller bringen im Saal ihren antinationalen Sketch, ohne zu ahnen, dass die Kameras ausgeschaltet sind. Es sagt ihnen auch keiner. Erst am nächsten Morgen lesen sie es in der Zeitung. Bundesweit wurde drei Minuten lang ein Standbild mit der Aufschrift „Technische Störung“ gezeigt.

Neuss’ bevorzugte Technik ist der schnelle Monolog, er bleibt ein MG-Schütze, nun des Humors. Diese Methode hat Wolfgang Finckh vorgemacht, auch Dieter Hildebrandt hat sie übernommen. Bei hohem Tempo, mit gespielten Versprechern und logischen Brüchen, lassen sich manchmal gewagte Gags unterbringen, die sonst unmöglich wären. Weil in dieser Zeit so vieles verboten ist oder unsagbar, genügen oft Andeutungen.

Neuss war damals etwa ebenso erfolgreich wie Heinz Erhardt, aber politischer, wobei er nach allen Seiten auszuteilen pflegte. Die meisten Texte von Neuss wirken allerdings nur, wenn er selber sie vorträgt, und das kann er leider nicht mehr. Seine Kalauer, seine frei assoziierenden Wortspiele entsprechen auch nicht mehr dem heutigen Stil. Sollte Neuss wiedergeboren werden, dürfte er es schwer haben in der Comedyszene.

In dieser Zeit verdient Wolfgang Neuss, wie der „Spiegel“ einmal recherchiert hat, etwa eine Million Mark im Jahr, brutto. Eine unglaubliche Summe. Neuss fährt Jaguar und einen amerikanischen Studebaker und gilt als eine Art Playboy, „ein unermüdlicher Aufreißer und sehr großspurig“, erzählt ein Zeitzeuge, der ungenannt bleiben will. Auch seinen Kompagnon Müller habe Neuss manchmal ziemlich grob behandelt. Verheiratet ist Neuss mit einer Schwedin. Er macht sogar Werbung. Ein Spot für „Nur die“-Strümpfe scheitert allerdings an künstlerischen Differenzen mit dem Auftraggeber.

Politisch sortiert er sich bei der SPD ein, ohne die SPD in seinen Programmen übertrieben zu schonen. Die Partei und er brechen mehrmals miteinander und versöhnen sich wieder. Mit der DDR hat er nichts am Hut. „Kein antikommunistischer Kalauer war ihm zu reaktionär“: Das ist wieder der „Spiegel“. Als sie ihn irgendwann aus der SPD ausschließen, sagt Neuss: „Ich bin doch nicht einmal Sozialist. Ich wecke nur das Bedürfnis nach differenziertem Denken.“

Drehbuchautor. Komödienautor. Darsteller in Molièrestücken und unter Erwin Piscator. Es wird immer mehr. Die Drogengeschichte beginnt schon damals. Neuss trinkt, er nimmt abends Schlaftabletten und morgens Preludin, zusammen oft 20 Pillen am Tag, vielleicht, um sein Lebenstempo durchzuhalten. Vielleicht ist da auch etwas, über das er niemals gesprochen hat, eine Erinnerung, die er unter Witzen begräbt.

1962

Der Schauspielpartner Wolfgang Müller stirbt 1960 bei einem Flugzeugabsturz, Neuss wird aus den laufenden Dreharbeiten zu „Das Spukschloss im Spessart“ entlassen. Ohne Müller ist er nur die Hälfte wert, scheint es, aber das erweist sich als Irrtum. Neuss wird, dem Zeitgeist entsprechend, noch lauter. Zu seinen Textern gehört zeitweise sogar Hans Magnus Enzensberger, unter dem Pseudonym „Andreas Thalmayer“. Noch unter Mitwirkung von Müller entstehen die Filme „Wir Wunderkinder“ und „Wir Kellerkinder“. In letzterem erzählt er die Geschichte eines Hitlerjungen, der einen Kommunisten versteckt und dafür vom Nazivater verprügelt wird. Nach dem Krieg versteckt er den Vater und wird dafür von den Kommunisten verprügelt.

Um Werbung für seinen Film „Genosse Münchhausen“ zu machen, schaltet Neuss 1962 eine Anzeige in einer Berliner Zeitung, dem „Abend“. In „Genosse Münchhausen“ geht es um Außerirdische, die auf einem Nacktbadestrand der Insel Sylt landen. In der Zeitungsanzeige verrät Neuss, kurz vor der letzten Folge, wer in dem Mehrteiler „Das Halstuch“ den Mörder darstellt, nämlich Dieter Borsche. „Das Halstuch“ von Francis Durbridge ist ein sogenannter Straßenfeger, die Mutter aller Fernsehkrimis. Unterzeichnet ist die Anzeige mit „Genosse Münchhausen“.

Neuss hatte den Namen des Mörders nur geraten. Aber es stimmte. Er war ja selbst Drehbuchautor und kannte das Handwerk. Das war seine zweite historische Tat in der deutschen Fernsehgeschichte.

Damit kippt es. Damit beginnt sein Abstieg. Das haben ihm viele Leute nicht verziehen – ein Spaßmacher, der ihnen den Spaß verdirbt.

1973

Neuss hat sich inzwischen der Apo angenähert, für den Vietcong gesammelt, später unterstützt er, obwohl selbst knapp bei Kasse, den Vater von Rudi Dutschke in der DDR. Er ist nicht mehr mehrheitsfähig, kein gefeierter Clown, kein Millionär. Vieles geht schief. Der Versuch, eine linke Zeitung zu gründen, scheitert. Er will in der neuen Supergruppe des deutschen Kabaretts mitmachen, „Quartett 1967“. Das sollen die Beatles des linken Liedes werden. Wolfgang Neuss (Pauke), Hanns Dieter Hüsch (Orgel), Franz Josef Degenhardt und Dieter Süverkrüp (beide Gitarre). Das Quartett zerfällt noch vor dem ersten Auftritt, weil Neuss sich weigert, ohne Gage aufzutreten. Hätten die Beatles auch nie gemacht.

Er geht nach Schweden, als „politischer Flüchtling“, wie er Willy Brandt in einem Brief mitteilt, was beim Publikum wieder einmal als ziemlich großkotzig rüberkommt, zumal der Flüchtling nach einigen Wochen kleinlaut zurückkehrt. Ein zweiter Auswanderungsversuch, mit Auto, Hund und Freundin, hat Chile zum Ziel, wo gerade der Sozialist Salvador Allende an die Regierung kommt. Als Neuss die Drogen ausgehen, fliegt er zur Auffrischung seiner Vorräte kurz nach Deutschland zurück, beim Zoll in Santiago de Chile öffnen sie dann seinen Koffer. Er wird als unerwünschter Ausländer abgeschoben.

Neuss selbst hat den Moment beschrieben, als ihm klar wurde, dass er keine Kontrolle mehr über sich hat. Der Professor und CDU-Politiker Kurt Biedenkopf hatte ihn, ziemlich mutig, für eine private Feier gebucht. Neuss rastete an diesem Abend aus, schimpfte, tobte, schrie, bis die peinliche Veranstaltung abgebrochen wurde. Biedenkopf zahlte das vereinbarte Honorar; höflich, schrieb Neuss später, sei der Mann trotz allem geblieben.

1973 tritt Neuss bei den „Stachelschweinen“ zum letzten Mal als der Wolfgang Neuss auf, den man kannte. Dann schlüpft er in eine neue Haut und gibt sich ganz seinem allmählichen Untergang hin.

Manchmal schrieb er, im langen Sterben, Gedichte, die anders klangen als das, was man von ihm kannte. „Eine Frage schwirrt/mir durchs Hirn/kann man so geschickt schweigen/dass man verstanden wird?“

Eine der letzten Besucherinnen bei Neuss, vielleicht sogar die letzte, die Kabarettistin Hannelore Kaub, hat später dem Schauspieler Ilja Richter berichtet, dass er beim Abschied eine Umarmung von ihr erbat. Das tat er sonst nie. Er hasste es, berührt zu werden.

Der letzte Hippie? Neuss ist vor die Hunde gegangen. Viele haben von seinem Talent profitiert, helfen konnte ihm keiner. Sein Freund Volker Kühn hat geschrieben: „Neuss sehnte sich nach Geselligkeit und Teamarbeit. Die Tragik war, dass er keinerlei Voraussetzung dafür mitbrachte.“

Das deutsche Fernsehen schuldet Neuss einen Film über sein Leben. Nico Hofmann zum Beispiel könnte ihn machen.

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