zum Hauptinhalt

Gesundheit: Am Ende des Weges

Berlin war eine der ersten Städte, in denen unheilbar Kranke zu Hause versorgt werden können. Das Modellprojekt Home Care e.V. besteht seit 20 Jahren. Unterwegs mit einem Palliativmediziner.

Kaum einer sammelt in Tempelhof oder Wilmersdorf so viele Knöllchen wie Thomas Schindler. Als Dreingabe bekommt er noch ein paar Zettelchen: „Sie stehen in einer LKW-Einfahrt“, das hat ihm gerade jemand unter den Scheibenwischer geklemmt. Der Allgemeinarzt mit Schwerpunkt Palliativmedizin ist mehrere Tage die Woche auf Achse. Und eigentlich kann jeder erkennen, warum er hier parkt. „Arzt im Einsatz“ steht auf dem Schild, das er hinter die Windschutzscheibe legt. Mit seiner Telefonnummer. Das Handy braucht Schindler fast noch dringender als Parkplätze.

Der Mann im taubenblauen Rollkragenpullover ist die Ruhe selbst, doch mahnende Zettel ärgern ihn. Seine Kranken und die Angehörigen können meist nicht warten. Fast allen bleibt nur noch eine Lebenszeit von Tagen, Wochen, allenfalls Monaten. Sie haben schlimme Schmerzen, brauchen Sauerstoff oder schmerzlindernde Medikamente. Es sind meist Patienten, die spezialisierte ambulante Palliativversorgung beanspruchen können, kurz SAPV genannt. Der Gesetzgeber hat diese Möglichkeit geschaffen, damit unheilbar Kranke medizinisch optimal versorgt ihre letzte Lebenszeit im vertrauten Umfeld verbringen können.

Herr G. ist erst um die 50. Er ist mit Hund zu seiner Mutter gezogen, als der Krebs trotz Operation, Chemotherapie und Bestrahlung wiederkam. Ende September war er noch selbst in der hausärztlichen Gemeinschaftspraxis am St. Gertrauden-Krankenhaus, in der Schindler mit vier Kollegen tätig ist. „Ich suche einen Arzt, der mir beim Sterben hilft, wenn es so weit ist“, hatte er gesagt. Heute besucht Schindler G. zum zweiten Mal zu Hause, spricht mit dem gut informierten Mann über Schmerzen, Schlafprobleme, Angst, körperliche Schwäche. Er erklärt ihm, dass der Wert des für den Sauerstofftransport zuständigen Hämoglobins in seinem Blut in den letzten Wochen rapide gefallen ist. Eine Transfusion könnte ihm etwas Kraft geben. Vorübergehend. Herr G. lehnt ab. „Ich weiß ja, wie es um mich steht.“ Nüchtern und sachlich bespricht er mit seinem Arzt, dass er die Dosis des Mittels gern erhöhen möchte, das ihm die Angst nimmt und für einige Stunden Schlaf schenkt.

Inzwischen hat Frau W. angerufen, ihrem Mann geht es nicht gut. Auch der 71-jährige Herr W. hat versucht, einen Tumor zu besiegen. Nach zahlreichen Komplikationen ist er immer schwächer geworden, wird künstlich ernährt, braucht ein Sauerstoffgerät. Die letzte Nacht war schlecht, nun ist er sehr schläfrig. Schindler rät, auf die künstliche Ernährung probeweise abends zu verzichten. „Die Ernährung ist eines unserer großen Themen. Am Lebensende belasten Essen und Trinken oft.“ Für die Angehörigen ist das schwer hinzunehmen, schließlich hat man viele Jahre lang gemeinsam um einen Esstisch gesessen. Nun ist das Möbel, um das sich das gemeinsame Leben gruppiert, oft ein Pflegebett.

Bei dem 72-jährigen Herrn F. steht das Bett im Wohnzimmer. F. gehört zu der Minderheit von Schindlers Patienten, die nicht infolge einer fortgeschrittenen Krebserkrankung seine Hilfe brauchen. Weil sein Leiden nicht in absehbarer Zeit zum Tod führen wird, ist er kein SAPV-Patient – was vergütungstechnische Auswirkungen hat. Herr F. hatte im September vorigen Jahres einen Schlaganfall, ist seitdem halbseitig gelähmt, kann nicht mehr sprechen. Seine Frau pflegt ihn aufopferungsvoll, verlässt die Wohnung nur für eine Dreiviertelstunde. Schindler verschreibt stärkere Schmerzmittel für den Kranken, dessen Jammern seine Frau beunruhigt. Etwas verlegen fragt sie, ob er auch ihr etwas verschreiben könne: Massagen gegen die zunehmenden Verspannungen im Nacken. Die Physiotherapeutin, die zu ihrem Mann kommt, wird nun ein paarmal auch sie behandeln.

Schindler kennt viele solcher Paare und Familien in der Stadt. „Eine chronisch traurige Situation, die Not ist riesengroß.“ Der 56-Jährige ist erst vor vier Jahren wieder echter Hausarzt geworden. Zuvor war er hauptamtlicher Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Aber schon seit 1995 geht er als Arzt zu Sterbenden nach Hause, vor allem zu Krebspatienten, um dort ihre Symptome nach neuestem wissenschaftlichem Erkenntnisstand zu lindern. Berlin hatte auf diesem Feld in den 90er Jahren eine Vorreiterfunktion: Was zuvor fast nur im Krankenhaus möglich war, wird seitdem im Modellprojekt Home Care Berlin e.V. in der ganzen Stadt auch ambulant angeboten. Diesen November feiert der Verein, dessen Idee von einer onkologischen Schwerpunktpraxis ausging, sein zwanzigjähriges Bestehen. Schindler und seine Kollegen sind weiter eng mit ihm verbunden. Heute arbeiten Palliativversorger in acht Berliner SAPV-Netzwerken zusammen, die Home Care finanziell und organisatorisch unterstützt. In Qualitätszirkeln, bei Supervisionen und multiprofessionellen Fallbesprechungen tauschen sie sich aus.

Eine schöne ruhige Wohnstraße nicht weit vom Rüdesheimer Platz. Man kann verstehen, dass Frau S. hier nicht wegziehen möchte, zumal ihre Nachbarn, die sie seit 60 Jahren kennt, sich rührend um sie kümmern, die Korrespondenz mit der Krankenkasse eingeschlossen. Nur nicht ins Heim! Das ist derzeit ihr wichtigster Gedanke. „Ich habe das Gefühl, so kann es nicht weitergehen“, sagt Thomas Schindler behutsam zu ihr. „Sie sind nicht gut versorgt.“ Die Dame, weit über 90, leidet unter anderem an einer schweren Herzschwäche, kann das Bett nicht verlassen, die Nachbarn sind an der Grenze dessen, was sie tun können, obwohl Pflegedienst und Zugehfrau mehrmals am Tag kommen. Manchmal sei das Heim die bessere Lösung, sagt Schindler. Doch er insistiert nicht. Frau S. will es sich überlegen. In ein paar Tagen wird er wieder zu ihr kommen.

Nun fahren wir ins Vivantes Hospiz in der Wenckebachstraße in Tempelhof. Schindler betreut dort fünf Patienten. Herrn R. sieht er zum ersten Mal, er ist gerade aus der Klinik entlassen worden, leidet an den Folgen von Lungenkrebs, der Metastasen gebildet hat. „Ich möchte einmal für ein paar Stunden schmerzfrei sein“, sagt er zu seinem neuen Doktor. Der verordnet ein höher dosiertes Schmerzpflaster und verschreibt Tabletten, die bei Bedarf zu nehmen sind. „Eine Redebegleitung wäre schön“, wünscht sich Herr R. noch leise. Auch das ist möglich, das Hospiz bietet psychosoziale Betreuung an. Schindler möchte im Erstgespräch wissen, ob es Verwandte gibt, denen Herr R. die Vollmacht erteilt hat, Therapieentscheidungen für ihn zu treffen. Das bleibt unklar, kann aber beim nächsten Besuch vertieft werden.

Zurück nach Wilmersdorf, in ein kultiviertes Altbauambiente, wie in Michael Hanekes Film „Liebe“. Frau P. hat ihren Mann sorgfältig rasiert und frisiert. Als der Krebs bei Herrn P. diagnostiziert wurde, war er schon weit fortgeschritten. Bauchspeicheldrüse. Er hat Schmerzen, letzte Nacht haben ihn Husten und Atemnot geplagt. Schindler gibt P. zunächst nur ein Hustenmittel, kein Antibiotikum. „Rufen Sie mich morgen an und berichten, wie die Nacht war“, sagt er zu der Ehefrau. In Hanekes Film hat so ein Arzt gefehlt.

Eine Mitarbeiterin des Pflegedienstes öffnet die nächste Haustür: Frau R. lebt mit mehreren Katzen. Sie ist noch jung, hatte einen Tumor im Mund und muss durch einen operativ angelegten Ausgang der Luftröhre atmen. Nach dem Krebs traf sie noch ein Schlaganfall, der zu einer halbseitigen Lähmung führte. Frau R. hat es vor einiger Zeit geschafft, vom Alkohol wegzukommen, nun schwankt ihre Stimmung, trotz des Antidepressivums: Der Herbst, die Dunkelheit, die Gedanken an Weihnachten. Sie will damit klarkommen, ohne die Dosis des Medikaments zu erhöhen, das sie schon nimmt. Der Besuch muntert sie sichtlich auf. Ihr Wunsch an die Journalistin: „Schreiben Sie, ich gebe dem Doktor eine Eins!“ An das Knöllchen, das draußen vielleicht schon wartet, denkt Thomas Schindler nicht.

Home Care Berlin e.V., Tel. 453 43 48, www.homecareberlin.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false