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Multiple Sklerose: Antanzen gegen die Erschöpfung

Neun Frauen mit Multipler Sklerose stehen am Sonnabend in Lichtenberg auf der Bühne. Sie haben mehr als ein Jahr trainiert – um zu zeigen, was trotz der Krankheit in ihnen steckt.

Unter der Holzdecke des Gemeindesaals staut sich die Hitze, aber Christina Vogel tanzt – zur Heavy-Metal-Musik aus dem Kassettenrekorder. Die 44-Jährige trägt eine blaue Perücke, hebt die Arme und schiebt sich zum Rhythmus des Gitarrenlaufs an dem dicken Seil entlang, mit dem sie durch einen Karabinerhaken verbunden ist. Es sieht aus, als versuche sie, in einem Irrgarten Halt zu finden.

Bis zu diesem Projekt hat sich Christina Vogel eigentlich nie gerne bewegt. „Ich war immer schnell erschöpft“, sagt sie. Vogel ist eine von neun Frauen der Tanzgruppe „Pangea“, in der sich seit eineinhalb Jahren Frauen zwischen 32 und 53 Jahren treffen, die Multiple Sklerose (MS) haben. Zweimal in der Woche trainieren sie in den Räumen der Potsdamer Erlöserkirche für ihre Aufführung, die am kommenden Sonnabend in Lichtenberg zu sehen sein wird.

Kopf der Gruppe ist die Choreographin Dokum Choi-Knaust, eine drahtige Koreanerin, die Behindertensport studiert hat. Schon seit Jahren trainiert sie Gruppen im Rollstuhltanz. „Ich wollte aber auch gerne mit MS-kranken Frauen arbeiten, die nicht im Rollstuhl sitzen.“ Pangea hat die 48-Jährige die Gruppe genannt, weil der Begriff den grenzenlosen Urkontinent bezeichnet – Symbol für eine gleichberechtigte Gesellschaft ohne Barrieren. Ziel des Trainings: die Mobilität, Koordinationsfähigkeit und Vitalität der Frauen zu fördern.

„Wir wollen zeigen, dass wir den Kopf trotz der MS nicht in den Sand stecken“, sagt Christina Vogel. Mit 29 erfuhr sie von der Diagnose – spät, und darüber ist sie froh. „Sonst wäre mein Selbstbewusstsein vielleicht so angeknackst gewesen, dass ich gar nicht studiert hätte.“ Mit den Symptomen hatte sie schon lange gelebt, vor allem mit der ständigen Erschöpfung, auch mit den Konzentrationsschwierigkeiten – in einer Prüfung für das Staatsexamen schnitt sie deswegen zum Beispiel sehr schlecht ab.

Für Vogel ist es ein Wunder, dass sie jetzt tanzen kann. Gerade hat sie sich umgezogen, trägt ein himmelblaues Kleid, bewegt ihren Kopf zu sanften Harfenklängen und läuft quer durch den Raum. Noch vor einigen Jahren hätte sie das nicht gekonnt. Ihre Arbeit als Grundschullehrerin musste sie aufgeben, zwischenzeitlich saß sie im Rollstuhl.

In Deutschland sind rund 130 000 Menschen von Multiple Sklerose betroffen – zwei Drittel davon Frauen. Die Nerven entzünden sich bei dieser Krankheit an Stellen im Gehirn und Rückenmark, danach können harte Narben entstehen. Weil die Nervenbahnen, über die das Gehirn den menschlichen Körper steuert, dadurch beschädigt sind, kommen manche Befehle verspätet oder gar nicht zu ihrem Ziel. Die Folgen: Müdigkeit, ein torkelnder Gang, kognitive Störungen, Depressionen oder Blasenschwäche. MS verläuft oft in Schüben, zumindest zu Beginn der Erkrankung. Die Ursachen sind nicht ganz klar. Fest steht: Es handelt sich um keine psychische Erkrankung, außerdem ist MS weder erblich noch tödlich.

„MS kann heißen, dass ich manchmal wirres Zeug rede, kein Glas halten kann, weil meine Hände zittern, oder gegen den Schrank falle, weil mein Gleichgewicht spinnt“, sagt Sybille Gutsch, ebenfalls Teilnehmerin des Tanzprojekts. Wer an MS erkrankt ist, kennt die verständislosen Blicke – wenn er etwa bei der Arbeit eine Pause braucht, nicht die Leistung bringen kann, die gerade gefordert ist.

Über ihre Krankheit sprechen die Frauen von Pangea trotzdem kaum miteinander: „Wir sind keine Selbsthilfe-, sondern eine Tanzgruppe“, sagt Christina Vogel. Ihr gemeinsames Stück erzählt von den fünf Elementen Erde, Himmel, Wind, Feuer und Wasser und von Ursprung, Sehnsüchten, Ängsten, Liebe und Hoffnung. Die wilden Szenen mögen sie alle am liebsten. „Das tanzen die Frauen unglaublich gut“, sagt Dokum Choi-Knaust. Darin könnten sie ihre Erfahrungen mit Krisen zum Ausdruck bringen. Die Choreographin hat sich bewusst für den Ausdruckstanz entschieden - eine Tanzform, in der es auch darum geht, eigene Empfindungen darzustellen. Den Tänzerinnen hat das Training geholfen, nicht nur psychisch. Sie sind sich einig: „Unsere Kondition und die Koordination haben sich verbessert.“ Das hätten auch Ärzte bestätigt. Aufgeregt sind sie trotzdem – bis zum Sonnabend sind es nur noch ein paar Tage.

11. September, 19.30 Uhr, Max-Taut-Aula (Ecke Schlichtalle), Lichtenberg.

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