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Gesundheit: Krater im Körper

Zehntausende Deutsche leben mit Trichterbrust. Die Folgen sind einschneidend, anatomisch wie seelisch Doch eine Operation ist relativ leicht möglich. Chirurg Klaus Schaarschmidt hat schon vielen geholfen.

Zunächst hatte er gar nichts gemerkt. Die Brust von Jonas B. schien normal, wie die der anderen Kinder. Er machte sich keine Gedanken. Erst mit 14 passierte es: er schoss regelrecht in die Höhe, zehn Zentimeter innerhalb eines Jahres. Und dann war sie plötzlich da, die Trichterbrust. Eine deutliche Eindellung seines Brustkorbs, für alle zu sehen, im Schwimmbad, am Strand, beim Sportunterricht. Jonas, heute 19, hatte noch Glück: Seine Mitschüler in Pankow hänselten ihn nicht. Aber viele betroffene Jugendliche wollen es erst gar nicht so weit kommen lassen. Aus Angst und Scham ziehen sie sich zurück, schotten sich ab, werden verschlossen und einsam.

Eine Trichterbrust ist Resultat eines Fehlwachstum der Rippen, des Brustbeins und der verbindenden Knorpel. Weil die Knochen zu lang sind, sinkt der vordere Teil des Brustkorbs ein. Betroffen ist davon ungefähr jedes tausendste Kind, Jungen zehnmal häufiger als Mädchen –, für die es gerade aus diesem Grund besonders schlimm ist. Warum vor allem Jungen eine Trichterbrust ausbilden, ist noch unklar, eventuell spielen die Hormone eine Rolle. Bei 20 Prozent der Kinder ist die Trichterbrust bereits ab Geburt vorhanden, bei den anderen entsteht sie erst während der Pubertät in der Wachstumsphase.

Unmittelbar lebensbedrohlich ist eine Trichterbrust nicht, aber sie kann die körperliche Leistungsfähigkeit einschränken. Da das abgesunkene Brustbein aufs Herz drückt, weicht dieses zur Seite aus und drückt wiederum die Lunge beiseite. Das Herz bildet dabei eine unnatürliche Asymmetrie aus, es muss viel häufiger schlagen, um die gleiche Leistung zu erzielen. Kurze Sprints über 100 Meter sind möglich, Ausdauersport über 1000 Meter oft nicht mehr. „Wenn wir unsere Patienten vor der OP messen, haben sie häufig schon bei kleinen Belastungen einen Puls von 200 oder mehr. Das liegt an der unphysiologisch hohen Schlagzahl des Herzens“, erklärt Klaus Schaarschmidt, Chefarzt der Klinik für Kinderchirurgie des Helios Klinikums Buch. Er hat sich auf die Problematik spezialisiert und operiert jedes Jahr rund 150 Trichterbrüste sowie Kielbrüste, ein wesentlich selteneres Phänomen. „Unbehandelt ist die Lebenserwartung von Menschen mit Trichterbrust etwa zehn Jahre geringer“, sagt er. Außerdem würden rund zehn Prozent ein Problem mit den Herzklappen entwickeln. Diese werden plattgedrückt und dadurch undicht. „Wir hatten einen Patienten, der einen Herzklappenersatz mit 16 Jahren brauchte“, erzählt Schaarschmidt.

Das sind die anatomischen Defekte. Mindestens so gravierend sind die seelischen. In einer Welt, in der Kino, Fernsehen, Werbung, Internet und Zeitschriften Virilität und Männlichkeit als Ideal darstellen, fühlen sich viele der Jungen nicht wie vollwertige Menschen, sie igeln sich ein, haben keine Freundin, ihre Eltern bekommen sie nie mit freiem Oberkörper zu sehen, auch Selbstmordversuche kommen vor. Klaus Schaarschmidt zeigt, was ein amerikanischer Patient aufgeschrieben hat, der sich erst mit 42 Jahren hat operieren lassen. „Trichterbrust ist ein Dieb“, schreibt er. „Sie raubt Freude, Selbstvertrauen und Spontanität. Sie saugt den Spaß aus vielen Erlebnissen, die eigentlich schön sein sollten: Schwimmen gehen, Strandurlaub, Liebe machen.“

Ganz so schlimm war es bei Jonas B. nicht. Trotzdem wollte er die Verformung beheben lassen, auch wenn sich seine Mutter Sorgen wegen der OP machte. „Es sind häufig die Jugendlichen selbst, die den Wunsch äußern“, sagt Schaarschmidt. Jonas erzählt: „Meine Kinderärztin wusste, dass es in Berlin einen Spezialisten gibt, und hat mich nach Buch überwiesen. Das war ja praktischerweise gleich bei uns um die Ecke.“ Die OP selbst kann heute vergleichsweise unaufwendig durchgeführt werden.

Ferdinand Sauerbruch gehörte 1913 zu den ersten Chirurgen, die einen Eingriff wagten – in Berlin. Die einzige Möglichkeit zur Behebung einer Trichterbrust war lange eine sehr invasive und blutige Methode, bei der die Brust mit zwei großen Schnitten geöffnet wird, um die deformierten Rippen zu entfernen, das Brustbein anzuheben und mit Bügeln zu fixieren. 1987 entwickelte der südafrikanische Mediziner Donald Nuss in den USA eine minimalinvasive Alternative, die heute in 50 Prozent aller Fälle angewandt wird und nur zwei kleine Schnitte rechts und links erfordert. Durch einen der beiden Schnitte wird ein – es können auch zwei sein – gebogener Metallbügel eingeführt, an dessen Spitze sich eine Videokamera befindet. Unterhalb der Rippen dreht der Chirurg die Bügel um, so dass diese nach oben gedrückt werden. Die Bügel werden dann an den Rippen festgenäht – mit Fäden aus Milchsäure, die sich vollständig auflösen. Durch eine spezielle Technik der Vernähung hat Klaus Schaarschmidt diese Methode, bei der die Bügel anfangs noch leicht verrutschen konnten, weiterentwickelt. Inzwischen kommen Patienten aus der ganzen Welt zu ihm.

Auch Jonas war bei ihm in Behandlung. „Unmittelbar nach dem Erwachen aus der Narkose hat mein Brustkorb natürlich geschmerzt, das Essen war schwierig, ich konnte mich nicht bücken, um mir die Schuhe zuzuschnüren“, erzählt er. Aber nach zehn Tagen konnte er nach Hause, nach vier Wochen wieder in die Schule. Vier Jahre blieb der Bügel in seinem Körper, das natürliche Wachstum hat in dieser Zeit den Brustkorb quasi von selbst korrigiert. „Das Prinzip funktioniert wie bei einer Zahnspange“, sagt Schaarschmidt. Deswegen sei eine Operation zwischen 14 und 16 ideal. Früher wäre es zu gefährlich, weil sich dann möglicherweise erneut eine Trichterbrust bildet. Jonas war zum Zeitpunkt der OP 15 Jahre alt. Klaus Schaarschmidt hat auch Patienten zwischen 20 und 30. Alles über 35 nennt er „sehr sportlich“, über 45 möchte er nicht gehen, auch wenn er gerade einen 54-jährigen Patienten operiert hat – eine absolute Ausnahme.

Bei manchen kommt der Bügel schon nach zwei Jahren wieder raus. Jonas hat ihn vier Jahre lang kaum gespürt, da er ja unterhalb der Rippen liegt. Natürlich gab es Einschränkungen: Kein gefährliches Fahradfahren, kein Geräteturnen beim Schulsport, dafür ein spezielles Reha-Training zum Muskelaufbau. „Im Grunde habe ich aber die Existenz des Bügels vergessen“, sagt er. Nach einem halben Jahr haben sich die Fäden aufgelöst, der Bügel wird dann allein vom Gewebe und den entstandenen Narben fixiert. 2011 musste Jonas noch mal für einige Tage ins Bucher Klinikum, der Bügel wurde unter Vollnarkose wieder rausgezogen. Jetzt bereitet er sich aufs Abitur vor, danach will er mit dem Jugendfreiwilligendienst für ein Jahr nach Bolivien. „Ich fühle mich gesund, kann alles machen, was andere auch tun, tanzen, schwimmen.“ Die beiden kleinen Narben an seiner Brust dürften den Badegästen nur auffallen, wenn sie ganz genau hinschauen.

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