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Gesundheit: Mehr als eine Droge

Cannabis ist illegal. Ein Extrakt der Hanfpflanze kann aber starke Nervenschmerzen oder Multiple Sklerose lindern Noch ist die Wirkung wenig erforscht. Und doch könnten ihre Inhaltsstoffe bald als Medikament zugelassen werden

Weiches Fell streift über gerötete, geschwollene Haut: Die Katze Lola berührt Hans-Jürgen Scholz’ Fingergelenke mit ihrer Schwanzspitze. Scholz sitzt auf einem Stuhl, sein rechter Arm hängt schlaff herunter, die Hand ist zu einer Kralle verzerrt. Die Berührung des Tieres spürt er nicht. Der Hauptnervenstrang des Arms wurde bei einem Unfall aus dem Rückenmark gerissen, ein Autofahrer hatte ihn vor 34 Jahren angefahren, 18 war er damals. Seitdem ist der Arm gelähmt. Ein Jahr nach dem Unfall begannen plötzlich die Schmerzen: „Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen starken Sonnenbrand auf dem Arm, und dann würde jemand ihn wie ein Handtuch auswringen.“

Neuropathische Schmerzen nennt man das, sie entstehen, weil die Nerven beschädigt sind. „Mein Gehirn bildet sich ein, Schmerz produzieren zu müssen“, sagt Scholz. Der Schmerz sei immer da, 24 Stunden am Tag. Und dann sind da noch die „Attacken“, in denen die Schmerzen fast doppelt so schlimm werden – 100 bis 200 Mal pro Tag: „Manchmal kommt die nächste Attacke nach einer Minute, manchmal nach einer Stunde.“ Und es gebe Tage, an denen sie so heftig und häufig sind, dass er nicht mehr sprechen könne. Lange hat er den Schmerz irgendwie ertragen, sogar ganz normal gearbeitet. „Ich habe gelernt, ihn nicht als Feind zu sehen. Aber es wurde immer schwieriger, damit zu leben.“

Vor etwa acht Jahren begann er eine Schmerztherapie. Seitdem hat er viele Medikamente durchprobiert. Zurzeit nimmt er Morphin-Tabletten, die sich langsam in seinem Magen auflösen, so dass sie das Betäubungsmittel kontinuierlich abgeben. Wie die meisten Schmerzmittel, die er versucht hat, fallen sie unters Betäubungsmittelgesetz. Er hat einen Ausweis, in dem steht, dass ein Arzt es ihm legal verschrieben hat. Aber nur ein halbes Jahr lang habe das Morphin ein bisschen geholfen. Jetzt sei alles wieder wie vor Beginn der Therapie. Er nehme es nur noch, weil er sonst Entzugserscheinungen bekomme und die Schmerzen wohl noch schlimmer würden.

Jetzt allerdings meint Scholz, er habe einen Weg gefunden, wirklich vor den Schmerzen zu fliehen: Er hat einen Joint geraucht. Und plötzlich waren sie weg. „Aber ich habe mich so benommen gefühlt, bekifft, das war furchtbar unangenehm.“ Und er sei „ein gesetzestreuer Bürger“, der keine illegalen Drogen nehmen will. Also ließ er sich von seinem Arzt den Hauptwirkstoff im Cannabis verschreiben: Dronabinol besteht aus Delta-9-Tetrahydrocannabinol, das man unter dem Kürzel THC kennt. Man könnte es mit Scholz’ Morphindosis kombinieren, er müsste dann wesentlich weniger davon nehmen. Doch eine Behandlung mit dem Wirkstoff, der in Apotheken eigens mit einem Öl zusammengemischt werden muss, kostet bis zu 400 Euro pro Monat. Und Scholz’ Krankenkasse zahlt das nicht, anders als das Morphin. Deswegen hat er Klage beim Landessozialgericht eingereicht. Damit ist er Teil eines Problems, das zurzeit diskutiert wird: Die Linkspartei hat der Regierung vorgeworfen, sie tue nichts dafür, die Situation von Menschen zu verbessern, die zwar eine Ausnahmegenehmigung für den Gebrauch von Cannabis als Medikament bekommen, aber die Behandlung nicht selbst zahlen können.

Ist Cannabis als Schmerzmittel denn überhaupt medizinisch eine geeignete Alternative zum Morphin? „Ja, aber mit Einschränkungen“, sagt Hans Rommelspacher, klinischer Neurobiologe an der Charité. Außer Dronabinol gebe es auch noch ein Cannabis-Extrakt und das Kraut in Apotheken. Seit 2005 können Patienten bei der Bundesopiumstelle eine Therapie mit Cannabis beantragen. Doch das tun nur sehr wenige. Denn weder Dronabinol noch das Extrakt sind als Medikament zugelassen – die Apotheken stellen es erst vor Ort her. Deshalb müssen die Kassen die Kosten nicht übernehmen.

Cannabis könne bei neuropathischen Schmerzen wirksamer sein als Morphin, gerade nach Unfällen, sagt Rommelspacher. Seine Wirkung sei aber noch kaum erforscht – anders als die von Morphin. „Davon wird man zwar körperlich abhängig, aber nicht psychisch süchtig. Beim Cannabis weiß man das noch nicht genau.“ Auch ob es mehr sediere als Morphin, sei schwer zu sagen. Patienten hätten ihm außerdem berichtet, dass Dronabinol nicht so wirksam sei wie Cannabis, das man als Joint raucht. Das liege wohl daran, dass dem Dronabinol andere Inhaltsstoffe aus dem Cannabis fehlten, die die Wirkung verstärkten. Doch wenn man Cannabis als Joint rauche, könne man das THC nicht richtig dosieren. Das ist generell schwierig.

Auch der Extrakt ist schwer zu dosieren, wie Multiple-Sklerose-Patienten feststellten, die 2009 an einer britischen Studie teilnahmen. Einige brachen die Behandlung schon zu Beginn wegen der Nebenwirkungen ab – während ihre persönliche Dosis ermittelt wurde. „Cannabis kann Schwindel hervorrufen und den Blutdruck zu sehr senken“, sagt Hans Rommelspacher. „Außerdem könnte es schwierig werden, geistig anspruchsvolle Aufgaben damit auszuüben. Wer mit Multipler Sklerose wieder ins Berufsleben eingegliedert werden will, sollte es nicht unbedingt nehmen.“

Insgesamt kam die Studie dennoch zu positiven Ergebnissen. 30 Prozent der Teilnehmer fühlten sich besser in Bezug auf Muskelsteifheit, Schmerzen, Spastik und Schlafstörungen, wie das Berliner Institut für klinische Forschung (IkF) mitteilt, das die Studie durchgeführt hat. Ziel war die Zulassung des Extrakts als Arzneimittel. Das ist noch nicht geschehen. Andere Hersteller könnten jedoch noch in diesem Jahr in England die Zulassung für ein Cannabis-Extrakt bekommen, das den Namen Sativex bekommen soll und auch bald in Deutschland zugelassen werden könnte. Dann müssen die Kassen die Kosten übernehmen.

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