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European Focus #21: Energie-Apokalypse verschoben

+++ Rechte verzockt sich +++ Harte Hand des Staates +++ Moskaus Entscheidung, nicht Warschaus +++ 15 Prozent +++ Die Rückkehr des Lichts +++

Hallo aus Berlin,

der Winter ist fast vorbei – und die Apokalypse ausgeblieben. Das war unser Arbeitstitel, den wir vergangene Woche Mittwoch bei unserem Brainstorming zum aktuellen Newsletter-Thema scherzhaft gewählt hatten. Soziale Unruhen, großflächige Stromausfälle, keine Heizung und eiskalte Wohnungen waren einige der Befürchtungen, die sich im Sommer angesichts der bevorstehenden kalten Jahreszeit äußerten. Es herrschte eine düstere Vorahnung: Europa ist einfach zu abhängig von russischen Energielieferungen.

Und genug schlimme Dinge sind passiert, keine Frage. Aber die Worst-Case-Szenarien haben sich nicht bewahrheitet. Das liegt womöglich zum Teil daran, dass die Regierungen bei der Bewältigung der Herausforderungen, einschließlich der Inflation, einigermaßen passabel haben. Vielleicht waren wir auch weniger abhängig von Putins fossilen Brennstoffen, als wir zunächst dachten.

Allerdings haben sich einige Regierungen offenbar nicht in gleicher Weise um andere existenzielle Sorgen gekümmert, die zu sozialer Unruhe führen könnten. Das zeigte sich in Deutschland beispielsweise in Lützerath. Darüber hinaus wurden gewisse Ängste von Branchen aufgegriffen, deren primäre Aufgabe es nicht ist, den Frieden zu schützen, wie zum Beispiel die Atomlobby.

Das bedeutet für uns: Weitere „Apokalypsen“ können uns ins Haus stehen, seien sie nun klimatisch oder atomar bedingt. Aktuell lässt sich aber festhalten: Wir haben den Winter recht gut überstanden.

Teresa Roelcke, dieswöchige Chefredakteurin

Rechte verzockt sich

Im vergangenen Oktober habe ich in diesem Newsletter geschrieben, es könne bald einen weiteren rechtsradikalen Premierminister in Europa geben. In den Sonntagsfragen zur anstehenden Wahl am 5. März schien Martin Helmes Partei der Estnischen Nationalkonservativen (EKRE) alle Rekorde zu brechen. Inzwischen hat sich dieser Höhenflug aber deutlich abgeschwächt.

Vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 war die EKRE die führende Partei in den Umfragen. Die angezählte Premierministerin Kaja Kallas von der liberal-konservativen Reformpartei kämpfte darum, ihren Posten zu behalten.

Wie der Zufall es will, ist der 24. Februar auch der Unabhängigkeitstag Estlands. Das ließ den Beginn des Kriegs hierzulande nochmals dramatischer wirken. Schließlich war auch Estland einst von Russland besetzt. Die zahlreichen Putin-kritischen Auftritte der Premierministerin in internationalen Medien im vergangenen Jahr haben ihr innenpolitisches Ansehen gestärkt.

Doch je mehr die Energiepreise in die Höhe schnellten, desto besser stand die Partei von Helme gegen die Liberalen von Kallas da. In ihren Werbespots ließ die EKRE verlautbaren: „Wir werden Estland retten!“ Die Wahlkampagne baute sozusagen auf hohe Energiepreise – die aufgrund des ungewöhnlich milden Winters jedoch keinen längeren Bestand hatten.

Helme versuchte, die Schuld für die hohen Energiepreise Kaja Kallas und Ursula von der Leyen in die Schuhe zu schieben. Am 24. Februar dieses Jahres konnte eine grinsende Kallas dann zusammen mit von der Leyen und NATO-Chef Jens Stoltenberg in Tallinn den 105. Unabhängigkeitstag Estlands feiern. Kallas weiß, dass diese „Globalisten“ an ihrer Seite für Irritationen bei Helme und der EKRE sorgen, aber ihre eigene Popularität stärken.

Helme hatte auf die „Energie-Waffe“ gesetzt, die sich jedoch als weitgehend harmlos erwies. Zeitweise waren die Marktpreise sogar niedriger als die staatlich festgelegten Preise für Kunden, die stabile Ausgaben präferieren.

Die Aussicht auf einen rechten Premierminister in Estland ist natürlich nicht komplett zunichte gemacht. In der letzten Woche des Wahlkampfs hat Helmes pro-europäische Erzfeindin jedoch die Nase vorn – und gut lachen.

Herman Kelomees ist Journalist bei Delfi in Tallinn und berichtet hauptsächlich im Ressort Politik.

Harte Hand des Staats

Vor sechs Monaten war in Deutschland der bevorstehende „heiße Herbst“ in aller Munde. Dabei ging es nicht um ungewöhnlich hohe Temperaturen, sondern um die damalige Angst, dass die steigenden Energiepreise in Deutschland zu massiven sozialen Unruhen führen würden.

Wie sich herausstellte, löste die Inflation keine Riots in den bundesdeutschen Straßen aus. Die Regierung erhielt Schützenhilfe durch einen milden Winter, ergriff aber selbst auch sozialpolitische Maßnahmen, um mögliche Unruhe einzudämmen.

Das heißt aber nicht, dass Energiefragen die Bevölkerung nicht bewegt hätten. Im Januar strömten Tausende in das Dorf Lützerath, um die Erweiterung des Braunkohletagebaus zu verhindern. Im rheinischen Revier zeigte sich der Staat weniger sanftmütig und entschied sich für Repression. Auf Twitter äußerte die Klimaaktivistin Luisa Neubauer einen eigentlich simplen Appell: man wolle protestieren können, ohne kriminalisiert zu werden. Beim Respekt für solche bürgerlichen Freiheiten scheint man in Deutschland an unterschiedliche Demonstrationen unterschiedliche Maßstäbe anzulegen.

Alexander Kloss ist Journalist beim Tagesspiegel. Er hat sich auf die Schnittstelle von Politik, Kultur und Wirtschaft spezialisiert.

Moskaus Entscheidung, nicht Warschaus

Russland hatte im zweiten Quartal des vergangenen Jahres zunächst die Gaslieferungen an Polen vollständig gekappt; vor ein paar Tagen kamen die Öllieferungen hinzu.

Davor war Polen der größte Importeur von russischem Öl in der Europäischen Union. Begleitet war dies vor allem von Heuchelei: Während die polnische Regierung andere EU-Länder, insbesondere Deutschland, lautstark dafür kritisierte, Rohstoffe aus Russland zu importieren, tat sie im Stillen dasselbe.

Als Deutschland alle Ölimporte aus Russland ab dem 1. Januar 2023 einstellte, ließ die Regierung in Warschau die Lieferungen einfach weiter laufen.

Warum diese Diskrepanz? Vielleicht geht es um die riesigen Gewinne, die das staatlich kontrollierte Unternehmen Orlen dank des billigen Öls aus Russland machen konnte. Im vergangenen Jahr beliefen sich diese auf 21,5 Milliarden Złoty (rund 5,2 Milliarden Euro). Dieses Geld fließt in den Staatshaushalt und in die politischen Projekte der Machthaber. Orlen hat mit diesen Mitteln außerdem mehrere Regionalzeitungen gekauft. Diese Lokalmedien sind oft ein Propagandamittel für die Regierung und somit ein wichtiges Machtinstrument bei den anstehenden Parlamentswahlen in diesem Jahr.

Für die Regierung hat der Machterhalt absolute Priorität. Sicherlich hätte Polen seine Energieversorgung viel schneller diversifizieren können und wäre nicht so sehr auf den alten Rivalen im Osten angewiesen. Dass Polen nun kein russisches Öl und Gas mehr importiert, ist zwar gut, war aber keine Entscheidung, die von der Regierung in Warschau getroffen wurde. Entscheidend war Moskaus Haltung.

Michał Kokot arbeitet im Auslandsressort der Gazeta Wyborcza und befasst sich dort mit Politik und Gesellschaft Mitteleuropas.

Zahl der Woche: 15 Prozent

Im Jahr 2022 ist die Stromerzeugung in Frankreich gegenüber 2021 um 15 Prozent gesunken und hat damit den niedrigsten Stand seit 30 Jahren erreicht. Um dies zu kompensieren, musste das Land zum ersten Mal seit 1980 wieder Strom importieren.

Diese ungewöhnliche Situation vor dem Hintergrund der allgemeinen Energiekrise ist auf einen Rückgang der Atomstromerzeugung zurückzuführen. Frankreichs Reaktoren sind in die Jahre gekommen; die Hälfte wurde im Winter gleichzeitig wegen Wartungsarbeiten abgeschaltet. Weiterhin stark ist derweil die französische Atomlobby. Bestärkt wird sie durch die Bemühungen der EU, die Energieabhängigkeit von Russland zu beenden.

Nelly Didelot arbeitet im Auslandsressort von Libération in Paris. Sie befasst sich mit Mittel- und Osteuropa sowie mit Umweltthemen.

Die Rückkehr des Lichts

Ich mag das Licht nachts in meiner Wohnung. Die Laternen in meiner Straße in Kiew haben einen warmen orangefarbenen Ton. Dieser spiegelt sich an meinen Wänden und macht die Wohnung erst so richtig gemütlich.

Im vergangenen Jahr habe ich dieses Licht kaum gesehen. Nachdem die russische Invasion begonnen hatte, schaltete die Ukraine für mehrere Monate in den Dimm-Modus. Das Licht könnte dem Feind helfen, Ziele zu entdecken oder zu treffen, also blieb es im ganzen Land in der Nacht dunkel.

Nachdem die Angriffe auf Kiew abgewehrt worden waren, endete dieser Modus für uns in der Hauptstadt zunächst. Ab dem 10. Oktober griff Russland jedoch die ukrainische Energieinfrastruktur massiv an, und die Dunkelheit kehrte zurück.

Ich erinnere mich an den vergangenen November als einen Monat, in dem meine Kolleginnen und Kollegen eilig nach Cafés mit Dieselgeneratoren suchten, damit sie ihre Artikel zu Ende schreiben konnten. Unser Chat, in dem wir einst Memes austauschten und Grillabende planten, glich einem Hackathon: Wir sprachen darüber, wie man ohne Strom ins Internet kommt, wie man Autobatterien zu Hause nutzen kann und wo man LED-Leuchten mit USB-Anschluss findet. Das Schlimmste war, dass wir wussten, dass es noch schlimmer werden könnte: Die Ukraine verfügte damals nicht über ausreichende Luftabwehrwaffen.

Inzwischen, seit einigen Wochen, gibt es im Land fast keine Stromausfälle mehr. Dank der Verbündeten, der Armee und der Elektriker des Landes ist unser Luftraum viel besser geschützt und das Energiesystem zumindest teilweise wiederhergestellt. Es ist jetzt die russische Seite, die erschöpft ist, nachdem sie den Großteil ihrer Raketen verschossen hat.

Zuerst wurden die Fenster im gegenüberliegenden Haus hell, dann kam auch die Straßenbeleuchtung zurück. Meine Wohnung ist nun wieder gemütlicher. Meine Freunde und ich fragen uns: Hätten wir uns damals im November träumen lassen, dass das Licht so schnell zurückkehren würde?

Es ist definitiv noch nicht alles durchgestanden. Die Ukraine ist aber zu einem Beispiel der Inspiration geworden und der Notwendigkeit, weiterzukämpfen, auch wenn die Aussichten düster sind. Nach der Dunkelheit kann es wieder heller werden.

Anton Semischenko ist Redakteur bei der englischsprachigen Version der Nachrichten-Website babel.ua aus Kiew.

Danke, dass Sie die 21. Ausgabe des European Focus gelesen haben.

Möglicherweise sind die letzten Sätze des letzten Beitrags in dieser Newsletter-Ausgabe die wichtigsten. Sie erinnern uns daran, uns nicht der Faszination für die Horrorszenarien hinzugeben und ihnen zu erliegen. Nach der Dunkelheit kann es wieder heller werden. Und der Frühling steht schon fast vor der Tür. 

Bis nächste Woche! 

Teresa Roelcke

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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