zum Hauptinhalt
„Verschwinde“ steht auf dem Plakat der Gegner von Präsident Saied, die vor der Wahl zu einem zahnlosen Parlament in Tunis demonstrieren.

© REUTERS / Foto: ZOUBEIR SOUISSI/REUTERS

Parlamentswahl in Tunesien: Parteien dürfen gar nicht antreten

Von Wahlkampf keine Spur im einstigen Vorzeigeland des „Arabischen Frühlings“. Der Präsident baut das politische System um, die Opposition demonstriert und boykottiert.

Das Datum ist kein Zufall: Am Samstag, den 17. Dezember, finden in Tunesien Parlamentswahlen statt. Der seit 2019 regierende populistische Präsident Kais Saied hat, wie er es gerne tut, dieses symbolisches Datum gewählt: Es ist der Jahrestag der Selbstverbrennung des jungen Tunesiers Mohamed Bouazizi im Dezember 2010, es soll die Wahl in eine Linie mit dem Ereignis stellen, das vor 12 Jahren den „ Arabischen Frühling“ ins Rollen brachte.

Trotz der bemühten Symbolik ist das Interesse in der Bevölkerung gering und eine niedrige Wahlbeteiligung absehbar. Parteien, die Wahlen überhaupt erst Aufmerksamkeit verschaffen, wurden vom Präsidenten von vornherein ausgeschlossen: es gibt seit der Verfassung- und Wahlrechtsreform keine LIstenwahl mehr. So treten meist unbekannte Einzelkandidaten an, die für einem effektiven Wahlkampf kaum gerüstet sind  In zehn der 161 Wahlkreise gibt es nur einen Kandidaten, in sieben weiteren keinen einzigen.

Außerdem werden im neuen Parlament deutlich weniger Frauen sitzen als früher. Bisher mussten die Listen paritätisch von Frauen und Männern besetzt werden. Nach Abschaffung der Listenwahl liegt der Frauenanteil unter den Kandidierenden in diesem Jahr lediglich bei 15 Prozent.

Der Präsident baut das politische System um

Der Aufruf zum Boykott durch die Opposition tut sein übriges. Für sie hat das Parlament nach der Verfassungsreform keine Bedeutung und Kontrollfunktionen mehr. Für viele Beobachter zeigt diese Wahl daher erneut das Scheitern der tunesischen Demokratie, nachdem der Präsident bereits ohne nennenswerten Widerstand das amtierende Parlament abgesetzt und die demokratische Verfassung von 2014 abgeschafft hatte. Die Parlamentswahlen sind nun ein weiterer Schritt in seinem Plan, das politische System nach seinen Vorstellungen zu verändern.

Dabei lagen anfangs große Hoffnungen auf der knapp drei Jahre nach der Vertreibung des Diktators Ben Ali verabschiedeten demokratischen Verfassung, die ein parlamentarisches System und klare Gewaltenteilung nach westlichem Modell vorsah. Doch in der Praxis verlor das Parlament sich bald in kleinteiligem Zwist und blockierte Entscheidungen.

Die Besetzung eines Verfassungsgerichtshofes scheiterte ebenso wie zahllose zentrale Reformvorhaben. Am Ende mündete der Dauerstreit medienwirksam in Faustkämpfe zwischen Abgeordneten. Als zudem mannigfache Korruption öffentlich wurde, war der Ruf des zentralen Entscheidungsorgans in den Augen vieler Bürger zerstört.

Großbürgerliche Eliten und Islamisten gemeinsam an der Macht

Innenpolitisch ist das Scheitern des demokratischen Prozesses auch das Scheitern des vom Westen vermittelten „grand bargain“ zwischen den alten, großbürgerlichen Eliten des Landes und der islamistischen Partei Ennahda. In wechselnden Konstellationen bis zur Wahl von Kais Saied 2019 teilten diese antagonistischen Gruppen die Macht.

Dies mag einen gewaltsamen Konflikt wie in anderen Ländern der Region zunächst verhindert haben, für die politische Glaubwürdigkeit und zur Beseitigung der zentralen Ursachen der „Arabellion“ war es keine ausreichende Voraussetzung.

Die wirtschaftliche Lage vieler Tunesier hat sich nicht verbessert.

© REUTERS / Foto: Jihed Abidellaoui/REUTERS

Weder die hohe Jugendarbeitslosigkeit noch die Benachteiligung der Regionen im Inneren des Landes wurden strukturell angegangen, eine Handvoll wohlhabender Familien und der aufgeblähte Staatsapparat dominieren weiter die Wirtschaft. Zudem wurde die jeweilige Klientel zu Lasten der öffentlichen Finanzen in Verwaltung und Staatsbetriebe vermittelt, so dass das Land am Rande des Staatsbankrotts steht.

Tunesier aus allen gesellschaftlichen Schichten verlassen das Land.

Alexander Knipperts

Auch internationalen Akteure haben ihre Rolle im Prozess des Scheiterns. Zahllose westlichen Staaten - ebenso wie ihre autoritären Gegenspieler aus der Region und darüber hinaus - waren in Tunesien vor allem wegen der symbolischen Bedeutung des „Arabischen Frühlings“ umfangreich investiert.

Dass die europäische Außenpolitik trotz großen finanziellen Engagements dabei keinen entscheidenden Beitrag zu Stabilisierung der Demokratie und zur Schaffung von Wohlstand leisten konnte, hat deutlich spürbare Folgen: Tunesier aus allen gesellschaftlichen Schichten verlassen das Land.

Wahlkampf im Kleinformat: Nur Einzelkandidaten dürfen antreten, Parteilisten sind nicht erlaubt.

© AFP / Foto: FETHI BELAID/AFP

Einige Golf-Staaten, angeführt von Katar, das die Muslimbrüder-Partei Ennahda unterstützt, haben währenddessen ihren Einfluss ausgebaut. Algerien, das von Anfang an kein Interesse an einer Demokratisierung des Nachbarstaates hatte, tritt nun als Unterstützer von Präsident Kais Saied deutlich in Erscheinung. Dessen Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi am Rande des sino-arabischen Gipfels in Riad in der vergangenen Woche zeigte wiederum, dass selbst China mit seinen 1,2 Milliarden Bürgen in einem autoritär regierten Tunesien mit 12 Millionen Einwohnern einen politischen Partner sieht.

Angesichts der ausgebliebenen Demokratiedividende verwundert es nicht, dass viele Tunesier auf neue Akteure und deren Versprechen einer besseren Zukunft setzen. Nicht wenige sehen das Vorgehen von Präsident Saied gegen die als korrupt gebrandmarkten politischen Akteure des demokratischen „Interregnums“ gar als Vollendung einer Kernforderung aus dem „Arabischen Frühling“: die korrupten Eliten des Landes, die mit dem Ausland gemeinsame Sache zum Nachteil des tunesischen Volkes machen, von der Macht zu vertreiben.

Doch auch Präsident Saied wird im Hinblick auf die enormen Herausforderungen bald Ergebnisse liefern müssen. Das machtlose Parlament, das am Wochenende gewählt wird, kann nicht für ausbleibende Reformen verantwortlich gemacht werden oder als Sündenbock für die Härten der notwendigen Sanierung der Staatsfinanzen herhalten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false