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Der Chefdirigent Robin Ticciati mit dem Deutschen Symphonie-Orchester

© Kai Bienert

Kein Konzert ohne Komponistin: Das Deutsche Symphonie-Orchester beim Musikfest Berlin

Mit Mahler und einem Stück für die chinesische Mundorgel Sheng versetzte der Chefirigent Robin Ticciati das Publikum in traumhafte Sphären.

Wu Wei, der Solist, entscheidet selbst, wann es losgeht. Und beginnt erst nach einer kleinen Ewigkeit, als in der Philharmonie wirklich völlige Stille herrscht. Das ist auch nötig, denn der erste, langgezogene Ton auf seiner Sheng ist unendlich leise, kommt von weit her.

Wei gilt als Meister der chinesischen Mundorgel, die aus bis zu 37 Bambuspfeifen besteht und in der Hand gehalten wird. Dem ersten folgt irgendwann ein zweiter Ton, es klingt wie eine Quinte, dann setzen nach und nach die Orchesterinstrumente ein: Streicher, Harfe, Schlagwerk. 

„Sheng“ steht für Harmonie und Balance

„Su“ („Atem“) heißt das Stück, mit dem das Deutsche Symphonie-Orchester seine neue Saison einläutet, geschrieben hat es Unsuk Chin, die 2001/2002 Artist in Residence beim DSO war. Ein programmatischer Auftakt, hat Chefdirigent Robin Ticciati für dieses Jahr doch die Parole ausgegeben: Kein Konzert ohne Komponistin! 

Die Zusammenarbeit von Solist und Ensemble ist Bedingung für jedes gute Konzert, doch in „Su“ ist sie elementar. Denn in dem 20-minütigen Stück fungiert das Orchester als Resonanzraum, Reflektor und Verstärker für die Impulse, die von der Sheng ausgehen, sodass alle zusammen als ein einziges großes Instrument aufgefasst werden können. Nach einem infernalischen Ritt sinkt das Ganze wieder in die Ruhe des Anfangs zurück, der vielleicht der Weltanfang ist. 

Dazwischen leise Wehmut, wenn man liest, dass der Begriff „Sheng“ auch für Harmonie und Balance zwischen Mensch und Natur steht – und weiß, dass gerade China, nachdem die westlichen Industriestaaten 100 Jahre dasselbe getan haben und noch tun – jedes Jahr monströs viel CO2 in die Erdatmosphäre entlässt.

Als Zugabe spielt Wu Wei ein Solostück, und erst hier blitzt der Charakter der Sheng so richtig auf: Eine zarte Melodie, tolle Mehrstimmigkeit, am Ende Jazzrhythmen: Es wäre fast besser gewesen, diese Zugabe zuerst zu spielen, um die Sheng als Instrument überhaupt erstmal kennenzulernen, bevor sie im Ringen mit dem großen Orchestertutti aufgeht.  

Die Zeit ist ausgehebelt

Um die Position des Menschen in der Natur, um chinesische Ästhetik und Lyrik dreht sich auch der zweite Konzertteil. Ticciati dirigiert in zauberhaft gemäßigtem Tempo ein leuchtendes „Lied von der Erde“. Mit dieser Nicht-Symphonie hat Gustav Mahler bekanntlich seinen beginnenden Weltabschied angekündigt. Der äußerst kurzfristig eingesprungene Tenor David Butt Philip hat im aufrauschenden Orchesterforte Probleme, bewährt sich aber im leiser gehaltenen dritten Lied „Von der Jugend“. Durchgehend verlässlich, mit schimmerndem Mezzo hingegen Karen Cargill, die auch das monumentale sechste Lied singt, das so lang ist wie die fünf anderen zusammen. 

Mahler wirft den Hörer hier in ein Traum-Kontinuum, in dem die Zeit als Kategorie ausgehebelt, die Ewigkeit musikalische Wirklichkeit geworden zu sein scheint. Und Robin Ticciati erfasst diese Stimmung der Partitur genau, erschafft mit dem DSO eine einzigartige Atmosphäre, die auch dann, wenn nur die Flöte und dünne Kontrabassstriche zu hören sind, von schwer auszuhaltender Dichte ist. Mit der scheinbar unendlichen Wiederholung des Wortes „ewig“ mündet das Werk in eine auch in der Philharmonie selten zu hörende, spektakuläre Stille – die irgendwann von einem unvermeidlichen, fernen Handygeklingel zerrissen wird. Haltloser Jubel. 

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