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Eine von 1500. Die von Gunnar Birkerts entworfene, 2013 eröffnete Lettische Nationalbibliothek am Ufer der Daugava.

© mauritius images

100 Jahre Lettland: Raumschiff Riga

Eine Nation aus Lesern und Leserinnen – und mit einer großen russischen Minderheit: Eine Reise nach Lettland, das gerade 100 Jahre alt geworden ist.

Es ist Samstagabend, kurz vor zehn Uhr und im Austra, einer Bar in Rigas Zentrum, einige Blocks von der Altstadt entfernt, hält sich der Andrang merklich in Grenzen. Ob sich die ganze Stadt schon auf den nächsten Tag vorbereitet, auf die Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum der Staatsgründung Lettlands? Uldis Daugavins sitzt im zweiten Stock des Austras an einem Tisch und lacht auf die Frage, ob denn auch für ihn der lettische Nationalfeiertag etwas Besonderes sei, was er denn da mache?

Gerade hatte er noch darauf hingewiesen, dass das große Feuerwerk zum Abschluss am Sonntagabend sicher nichts für ihn sei, er sich das nicht anschaue, und auch bei der Militärparade wolle er nicht dabei sein. Trotzdem werde er sich natürlich, wie jedes Jahr, mit Freunden treffen, mit ihnen kochen und trinken, das sei eine Selbstverständlichkeit für ihn.

Daugavins ist ein jugendlich aussehender Enddreißiger, der an diesem Abend eigentlich lieber über seine Arbeit sprechen möchte. Er ist Schriftsteller, schreibt Geschichten und gehört zu den wenigen Autoren seines Landes, von dem ein Buch ins Deutsche übersetzt worden ist, „Mit Weißbär in der Küche“, erschienen im Klagenfurter Drava Verlag, eine Art Märchen-Kochbuch für Kinder, zu dem Mara Viska die Illustrationen beigesteuert hat. Warum ausgerechnet dieses, kann er nur schwer beantworten, „das ist halt besonders gut!“, fügt aber auch an, dass er im Hauptberuf bei einer Werbeagentur arbeite und vom Schreiben nicht leben könne. Diese Aussagen wiederum unterstützt sein neben ihn sitzender Kollege Pauls Bankovskis kopfnickend, um seinerseits Moment Postkarten zu verteilen, auf denen eng beschrieben zwei von ihm ins Deutsche übersetzte Geschichten stehen, beide seinerzeit in Ausgaben von Christian Kracht und Eckhart Nickels Magazin „Der Freund“ erschienen.

Seit zwei Jahren wird die lettische Literatur sichtbarer

Tatsächlich mangelt es der lettischen Literatur an internationaler Sichtbarkeit. Das ist bei der Größe des Landes und einem aus zwei Millionen Einwohnern bestehenden Sprachraum erst einmal kein Wunder, ändert sich seit dem Jahr 2016 durch regelmäßige Teilnahmen an der Londoner Buchmesse mit einem großen Aufgebot an Autoren und Autorinnen aber so langsam, vierzig Übersetzungen ins Englische gibt es inzwischen. Überdies behauptet Lettland von sich, „eine Nation der Leser“ zu sein, ein Land, das über 1500 Büchereien hat, in denen angeblich pro Jahr knapp 14 Millionen Bücher ausgeliehen werden.

Eine davon ist natürlich die im Herbst 2013 nach zwanzigjähriger Bauzeit eröffnete, von dem lettisch-amerikanischen Architekten Gunnar Birkerts entworfene Lettische Nationalbibliothek am linken Ufer der Daugava. Wie ein Raumschiff liegt sie als eines der neuen Wahrzeichen Rigas gegenüber der Altstadt an einer der beiden Daugava-Brücken, ein dreiecksförmiger, aus dreizehn Stockwerken bestehender Solitär mit einer lichten Glasfassade, der innen hell und offen wirkt und von einer riesigen, Etage für Etage schräg in die Höhe wachsenden Printbuch-Bibliothek dominiert wird.

Als die Bibliothek eröffnet wurde, so wird dem Besucher gleich mehrmals erzählt, bildeten über zwanzigtausend Menschen bei beißender Kälte eine Kette von der Altstadt über die beiden Daugava-Brücken am Wasser entlang bis hin zum Neubau, um so von Hand zu Hand die ersten Bücher in die Nationalbibliothek zu transportieren. Es ist eine dieser Geschichten, die jeder Lette und jede Lettin parat hat, um damit auf den Gemeinsinn und nationalen Zusammenhalt des Landes hinzuweisen. So wie auch die von Krisjanis Barons, der zwischen 1894 und 1915 die Texte der lettischen Volkslieder verschriftlichte, auch auf kleinsten Papierfetzen, und deshalb als „Vater der Dainas gilt. Ein ganzer Schrank, das „Cabinet of Folksongs“ steht kaum übersehbar auf einer der Etagen der Nationalbibliothek.

Das Freiheitsdenkmal blickt nach Westen

Eine von 1500. Die von Gunnar Birkerts entworfene, 2013 eröffnete Lettische Nationalbibliothek am Ufer der Daugava.
Eine von 1500. Die von Gunnar Birkerts entworfene, 2013 eröffnete Lettische Nationalbibliothek am Ufer der Daugava.

© mauritius images

Und so wie auch jene Geschichte des ersten Crowd-Fundings in der Historie des Landes, als nämlich sieben Jahre lang in der Rigaer und auch der Landbevölkerung gesammelt wurde, damit zu Ehren der Gefallenen des Unabhängigkeitskrieges 1918 am 18. November 1935 das Freiheitsdenkmal errichtet werden konnte, inzwischen das ultimative Symbol für Lettlands nationale Souveränität mit seiner weiblichen, in den Westen blickenden weiblichen Figur, die drei Sterne in die Höhe reckt.

Das Freiheitsdenkmal ist am Sonntag auch einer der zentralen Anlaufpunkte der 100-Jahres-Feierlichkeiten, zusätzlich illuminiert von den knallrot leuchtenden und eine 100 darstellenden Fenstern des östlich aufragenden Radisson-Hotels im Hintergrund.

Schon am frühen Morgen um kurz nach acht Uhr finden sich hier diverse, gar nicht übertrieben feierlich, sondern kunterbunt gekleidete Gesangsgruppen ein und singen lettische Volkslieder. Später werden Blumengebinde niedergelegt, eine riesige Flagge aufgezogen und Staatspräsident Raimonds Vejonis eine Rede halten. Darin betont er die Reife seines Landes, die Zugehörigkeit zu Europa, und zwar als permanenter Teil sich explizit auch verantwortlich fühlend für ein modernes, aufgeschlossenes, grünes, innovatives Europa. Auch auf die Kriege und die langen Jahre der deutschen und sowjetischen Okkupation in den vierziger Jahren bis ins Jahr 1991 weist Vejonis kurz hin, auf die Unumgänglichkeit von Demokratie und Freiheit, schließlich einen Satz von Lettlands Nationaldichters Janis Rainis zitierend, „keine Demokratie zu wollen, das ist so, als wolle man keinen eigenen lettischen Staat.“

Klar, dass Riga an diesem Feiertag in rot-weiß-rot getaucht ist, überall kleine Fahnen verteilt werden, selbst die weißen Blumenvasen auf den Restauranttischen kleine rote Schleifen tragen – und dass bei der Militärparade nicht zuletzt Soldaten aus vielen anderen Nato-Staaten dabei sind. Trotzdem ist der große Nachbar Russland, mit dem Lettland eine fast 300 Kilometer lange Grenze hat, stets präsent. Uldis Daugavins sagt am Abend zuvor, immer wenn es übertrieben laut werde in der Stadt, denke er an die Russen, und er meint das nur ein bisschen ironisch. Wie so viele Letten und Lettinen hält er sich zum Thema Russland lieber bedeckt.

Ein Drittel der Einwohner sind russischsprachig

Tatsächlich gibt es ja einerseits eine latente russische Bedrohung unter Putin; dann die Erinnerung an die Okkupation, als die sowjetische Armee erst im Sommer 1940 in das Land einmarschierte, die bürgerliche Oberschicht deportierte, dann den Nazis infolge des Hitler-Stalin- Pakts den baltischen Staat überließ und 1944 endgültig das Regiment übernahm, auch mit der Zwangsansiedlung hunderttausender von Russen. Deren Nachkommen sind heute noch im Land, mehr, eher weniger integriert: Ein Drittel der zwei Millionen Einwohner Lettlands sind russischsprachig, inklusive einiger Ukrainer und Weißrussen. Noch immer gibt es unter den Russen sogenannte Nichtbürger, die 1991 nach der Unabhängigkeit einen Sonderstatus bekamen und nach und nach eigentlich „lettisiert“ werden sollten, was sich jedoch nur schleppend gestaltete. Nichtbürger besitzen einen violetten Pass, dürfen nicht wählen oder öffentliche Ämter bekleiden, haben dafür aber keine Probleme, nach Russland einzureisen.

Im Oktober dieses Jahres wiederum erhielt bei den Parlamentswahlen die vor allem von den russischstämmigen Letten gewählte Partei „Harmonie“ mit knapp 20 Prozent die meisten Stimmen aller Parteien, und doch ist klar, dass sie wie vor vier Jahren nicht an der Regierung teilnehmen wird, weil keine der anderen Parteien mit ihr koalieren will.

Erstaunlich ist vor diesem konfliktreichen Hintergrund, dass die zeitgenössische Literatur des Landes sich zunächst noch vermehrt der Aufarbeitung der Geschichte widmet. Eine Serie mit zehn historischen, bestimmte Dekaden betrachtenden Romanen gehörte zu den Bestsellern der letzten Jahre. Im Moment schreibt eine junge Generation von Autoren und Autorinnen lieber Lyrik, Comics und Kinder- und Jugendliteratur als realistische Gegenwartsprosa. Ob diese Generation aber tatsächlich so introvertiert ist, wie es eine Kampagne des lettischen Literaturinstituts Latvian Literature für die Buchmesse in London in diesem Jahr behauptet?

Daugavins und Bankovskis zucken da etwas ratlos mit den Schultern. Die Frauen des Insituts, und dieses scheint zu hundert Prozent in Frauenhand zu sein, sind davon im Hinblick auf ihre männlichen Kollegen überzeugt: „Stell einem lettischen Autor mal eine Frage“, sagt Ildze Jansone, eine der Repräsentantinnen von Latvian Literature, „dann kommt ein kurzer Satz als Antwort, dann herrscht Schweigen, und so geht es immer weiter. Sie reden nicht gern.“ Sie schaut ganz ernst, als sie das sagt – und Daugavins und Bankovskis schweigen dann auch erstmal lange.

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