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Der Rias Kammerchor gehört zu den weltweit anerkanntesten Profi-Gesangsensembles der Welt.

© Oliver Look

75 Jahre Rias Kammerchor: Zukunft braucht Herkunft

Die ganze nächste Saison lang feiert der Rias Kammerchor sein 75-jähriges Gründungsjubiläum. Mit außergewöhnlichen Konzerten aber auch mit drei ehemaligen Chefdirigenten.

Auf die lange Tradition des Rias Kammerchors blickt Justin Doyle mit Stolz und auch ein wenig Demut zurück. „Als ich 2017 Chefdirigent wurde, fragten mich alle, wie ich den Klang des Chors verändern würde. Ich wollte diesen Klang aber nie verändern, sondern weiterentwickeln“, sagt der Brite, der als Chorknabe an der Londoner Westminster Cathedral ganz früh in die Welt der Vokalmusik eintauchte. „Wir alle sind Teile eines Kontinuums. Vor mir gab es schon andere Dirigenten, die hier ihre Spuren hinterlassen haben. Niemand von ihnen wollte das, was bereits bestand, durch etwas völlig Neues ersetzen.“  

Die facettenreiche Arbeit des flexiblen, 34 Mitglieder zählenden Chors ließe sich wohl kaum an einem einzigen Abend resümieren. Sein 75. Jubiläum wird deshalb während der gesamten Spielzeit 2023/24 gefeiert.  Doyles Vorgänger Marcus Creed, Daniel Reuss und Hans-Christoph Rademann werden jeweils einen Konzertabend gestalten. „Ohne sie würde der Chor nicht so klingen, wie er heute klingt. Das Repertoire, das sie mitbringen, liegt ihnen besonders am Herzen“, betont Doyle.  

Gegründet im amerikanischen Sektor

Creed knüpfte in seiner Amtszeit von 1986 bis 2001 Verbindungen zu Spezialensembles wie etwa das Freiburger Barockorchester und die Akademie für Alte Musik Berlin. Zugleich legte er einen Akzent auf Werke der Gegenwart. Unter seiner Leitung erklingen nun Stücke von Hans Werner Henze, Martin Smolka, Toshio Hosokawa und Luigi Nono. Reuss, Chefdirigent von 2003 bis 2006, stellt den monumentalen „Kanon Pokajanen“ von Arvo Pärt in den Mittelpunkt eines auf estnische Komponisten fokussierten Programms. Rademann, bis 2015 im Amt und wie Creed ein großer Experte für die historische Aufführungspraxis, bringt Werke von Karl Amadeus Hartmann und Heinrich Schütz zur Aufführung. 

Freie Stimme der freien Welt

Gegründet wurde der Chor am 15. Oktober 1948 vom „Rundfunk im amerikanischen Sektor“. Dessen Kürzel „Rias“ trägt er bis heute im Namen. Zu jener Zeit war nicht nur die künstlerische, sondern auch die politische Freiheit akut bedroht. Denn die Sowjetunion versuchte durch die Berlin-Blockade den Westteil der Stadt auszuhungern - was ihr aber nicht gelang. Somit verkörpert der Rias Kammerchor – wie der Sender - seit seinen Anfängen „eine freie Stimme der freien Welt“.  

Erster Chefdirigent wurde Herbert Froitzheim. Sein Nachfolger Günther Arndt arbeitete nicht nur mit Sinfonieorchestern wie den Berliner Philharmonikern zusammen, sondern pflegte auch das Unterhaltungsrepertoire. Mit Uwe Gronostay trat dann 1972 ein strenger Erzieher auf den Plan. Auftritte mit populären Künstlern wie dem Tenor Rudolf Schock oder der Chanson-Sängerin Brigitte Mira waren fortan passé. Gronostay verlieh der a-cappella-Kultur des Chors den Feinschliff und schaffte die Basis für den homogenen, transparenten Klang, der zu seinem Markenzeichen wurde.  

Gronostay sorgt für Feinschliff

Bernhard Heß, seit 17 Jahren Direktor des Chors, erlebte vor Doyle bereits Hans-Christoph Rademann aus nächster Nähe. „So unterschiedlich die Dirigentenpersönlichkeiten auch sind – letztlich läuft es immer darauf hinaus, dass man Höchstleistungen erzielen will“, sagt er. „Bei Neubesetzungen müssen wir darauf achten, eine gesunde Altersstruktur zu erhalten. Im Prinzip ist ein Klangkörper wie ein Team aus Leistungssportlern. Wir brauchen die ‚jungen Wilden‘ ebenso wie den Mittelbau und die ganz erfahrenen Sängerinnen und Sänger.“  

Bei der Feier zum 25-jährigen Gründungsjubiläum des Rias Kammerchors prosten sich unter anderem der Gründer des Rias Kammerchores, Herbert Froitzheim, sein Nachfolger Günther Arndt sowie der damalige Chefdirigent Uwe Gronostay (Mitte) zu.

© Archiv Rias Kammerchor


Der Rias Kammerchor war zunächst ein klassischer Rundfunkchor, der in erster Linie dem Radio zuarbeitete. Seit der Wende hat sich sein Portfolio stetig erweitert. „Wir müssen uns jetzt im Wesentlichen auf dem Konzertmarkt behaupten. In Berlin und auf internationalen Tourneen spielen wir einen Großteil unseres Budgets ein“, so Heß. Die meisten Berliner Konzerte werden wie eh und je im Rundfunk übertragen, man sieht sich inzwischen aber als Partner auf Augenhöhe.  

Wie Leistungssportler

Mit dem noch älteren Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, das im Oktober hundert wird, führt der Chor Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe auf, die Leitung hat Vladimir Jurowski.  Das Neujahrskonzert mit dem Oratorium „Israel in Egypt“ steht wieder ganz im Zeichen Georg Friedrich Händels. Zu den Höhepunkten der Saison gehört auch eine Neuproduktion von Henry Purcells Oper „King Arthur“ in szenischer Einrichtung, Regie führt hier Christoph von Bernuth.  

Erstmals gibt es außerdem einen „Composer-in-Residence“, den Briten Alec Roth. Auch er feiert dieses Jahr seinen 75. Geburtstag. Sein imposantes 40-stimmiges Werk „Earthrise“, inspiriert von der Mondmission Apollo-8, brachte der Chor 2022 zu Gehör. Im nächsten Februar steht eine Uraufführung an. „Musik ist eine lebendige Kunst, wir sind kein Museum“, sagt Doyle. „Wir wollen zeitgenössische Komponisten unterstützen, die eine neue Sprache schaffen“.  Auch bei anderen Projekten überschreitet der Chor Grenzen. So lässt sich die Malerin Maria Rud live auf der Bühne vom a cappella-Gesang inspirieren. Und mit dem Berliner Ensemble „gamut inc“ und dem Logos Roboter Orchester lässt der Chor sogar surreales Musiktheater entstehen. 

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