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Kultur: Afghanistan: Überrannt

Sie gaben sich die Hand. Worte wurden nicht gewechselt, aber die Geste war bezeichnend.

Sie gaben sich die Hand. Worte wurden nicht gewechselt, aber die Geste war bezeichnend. Am Dienstag begrüßte der stets freundliche, unerschütterlich selbstbewusste US-Außenminister Colin Powell seinen Amtskollegen aus dem Iran, Kamal Kharrazi. Seit der Anti-Schah-Revolution vor 22 Jahren hat es zwischen beiden Ländern keine Beziehungen mehr gegeben. Deshalb wurde der Handschlag, bei aller Vorsicht, als mögliches Ende der Eiszeit gewertet. Im Kampf gegen den Terror ziehen sich selbst Gegensätze an.

Zum Thema Online Spezial: Terror und die Folgen Themenschwerpunkte: Krieg - Afghanistan - Bin Laden - Islam - Fahndung - Bio-Terrorismus Fotostrecke: Der Krieg in Afghanistan Der Ort der symbolischen Begegnung: das UN-Gebäude in New York. Der Anlass: ein Treffen der so genannten "Sechs-plus-Zwei-Gruppe". Das sind die sechs Nachbarn Afghanistans - China, Iran, Pakistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan - plus den USA und Russland. Deren Vertreter bemühen sich, die Formel für die Bildung einer Nachfolgeregierung in Afghanistan zu finden, die von möglichst allen Fraktionen des multiethnischen Landes akzeptiert werden kann.

Die Botschaft, die Powell diesem Gremium übermittelte, fasste anschließend ein Teilnehmer der Sitzung in drei Worten zusammen: schnell, schnell, schnell. Wenig später drückte es UN-Generalsekretär Kofi Annan ein wenig diplomatischer, aber ebenso deutlich aus: "Weil die Dinge sehr schnell vorangehen, müssen wir dringend die politischen Aspekte in Einklang bringen mit den militärischen Entwicklungen."

Humanitäre Hilfe wird leichter

Die nördliche Hälfte Afghanistans ist seit Dienstag offenbar fest in der Hand der Rebellen der Nordallianz. Selbst Kabul wurde überraschend schnell eingenommen. Das hilft der Humanität und Propaganda. Dringend benötigte Medizin sowie Nahrungsmittel können jetzt auf dem Landweg herbeigeschafft werden. Die Arbeit der zahlreichen Hilfsdienste vor dem Winter ist erheblich leichter geworden.

Außerdem sind nun jubelnde Männer zu sehen, die sich ihre Zwangsbärte abrasieren, Frauen, die sich zum ersten Mal seit vielen Jahren ohne männliche Begleitung auf die Straße trauen, Radio- und Fernsehgeräte werden wieder in Betrieb genommen, Zigaretten geraucht. Kein Zweifel: Die Befreiung eines Volkes von der Tyrannei der Taliban ist ein höchst willkommener Nebeneffekt der "Operation dauerhafte Freiheit". Grafik: Afghanische Opposition erobert Kabul Das Hauptziel allerdings bleibt ein anderes. Osama bin Laden soll gefasst und dessen Terrornetzwerk "Al Qaida" zerschlagen werden. Auch das hat Powell am Dienstag mit aller Klarheit gesagt: "Der Präsident wird niemals, niemals das Ziel vernachlässigen, bin Laden zu finden. Ich kann versichern, dass wir jeden Tag einen großen Teil unserer Aufmerksamkeit genau darauf richten." Militärisch wird diese Aufgabe mit jedem Tag leichter, an dem die verbündete Nordallianz weitere Teile des Landes kontrolliert.

Politisch allerdings bedeuten allzu rasche Militärerfolge eine Gefahr. Das dadurch entstehende Machtvakuum muss gefüllt werden. Das wird jetzt wahrscheinlich in zwei Schritten geschehen. In Kabul muss als erstes eine internationale Interims-Regierung etabliert werden, die von den Vereinten Nationen abgesegnet wird. Sie sollte sich auf multilaterale Streitkräfte aus überwiegend islamischen Ländern stützen. Die Türkei, Indonesien und Bangladesch haben einen Einsatz ihrer Truppen bereits angeboten. Eine "Koalition der Willigen" nennt das Powell. Erst im zweiten Schritt wird es dann zur Bildung einer afghanischen Nachfolgeregierung kommen, die auf möglichst breiter ethnischer Grundlage stehen sollte.

Entscheidend wird in den kommenden Tagen und Wochen sein, wie sich die politische Situation im Norden unter der faktischen Herrschaft der Nordallianz weiter entwickelt. Doch zeigen sich im afghanischen Anti-Taliban-Lager auch schon die befürchteten ersten Risse. Zahir Schah, der 87-jährige Ex-König, der eine vermittelnde Rolle in Nachkriegs-Afghanistan spielen soll, beschuldigt seine Verbündeten in der Nordallianz nach dem Fall Kabuls bereits des Wortbruchs, weil sie nicht, wie abgemacht, auf ihn und seine in hunderte von Fraktionen zerfallenenen königstreuen Anhänger gewartet haben. Diese Truppen sind nur ein Teil der Nordallianz. Es handelt sich um die Anhänger des legendären Achmed Schah Massud, der ganz gezielt zwei Tage vor den Anschlägen auf New York und Washington auf Geheiß Osama bin Ladens ermordet wurde, weil er für die Taliban am gefährlichsten war.

Nicht vergessen ist in Kabul zudem, wie auch Massuds Truppen in den unseligen Jahren nach dem Abzug der Sowjets und vor dem Einmarsch der Taliban gehaust haben, als die jetzigen Mitglieder der Nordallianz Kabul während ihres Machtkampfs in Schutt und Asche legten.

Racheakte gefährden den US-Erfolg

Schon scheint die Nordallianz ihrem schlimmen Ruf gerecht zu werden. Aus Mazar-i-Scharif werden Racheakte der Truppen Dostums gemeldet, Plünderungen und Exekutionen. Ähnliches scheint sich nach bisher unbestätigten Berichten in Kabul zu ereignen. Darauf reagiert die US-Regierung äußerst empfindlich. Falls sich der Eindruck verfestigt, jetzt würde die Nordallianz jene Verbrechen begehen, derer die Taliban bezichtigt wurden, würde die Strategie der Amerikaner nachhaltig diskreditiert.

Außerdem wäre es für sie bedeutend schwieriger, das eigentliche Kriegsziel zu erreichen. Osama bin Laden wird wahrscheinlich mit den Taliban in Richtung Süden geflohen sein. Dort befindet sich die Machtbasis des Regimes. Je brutaler die Opposition im Norden herrscht, desto fester schließen sich die Reihen um die Taliban im Süden. Diesen Zirkel muss Washington durchbrechen. Das geht nur, wenn sich auch die Stämme dort nach der Befreiung sehnen.

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