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Die französische Schauspielerin Irène Jacob im israelischen Film „Shikun“ von Amos Gitai, der in der Reihe „Berlinale Special“ läuft

© Laura Stevens / Agav Films 2024

Amos Gitais Israel-Film „Shikun“ auf der Berlinale: Das Chaos choreografieren

Der große israelische Regisseur Amos Gitai befasst sich in „Shikun“ erneut mit den Dilemmata seines Landes. Gedreht vor dem Hamas-Terror am 7. Oktober, stellen sich die Fragen jetzt noch dringlicher.

Sie vagabundiert durch die Flure, tänzelt und singt, läuft gegen den Strom, dreht langsam durch und schreit entsetzt auf. Die französische Schauspielerin Irène Jacob ist zunächst unser Guide in „Shikun“, wird aber zunehmend sprachlos und kopflos im jüngsten Werk des großen israelischen Regisseurs Amos Gitai, einer filmisch-theatralen Etüde zur Frage, ob Israel noch zu retten ist. Ob das Land bald nur noch von Nashörnern bevölkert wird, frei nach Eugène Ionescos Theaterstück über Opportunismus und Herdentrieb.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Gitai, ein so besonnener wie angefeindeter Kritiker der israelischen Regierungspolitik, hat den Film vor dem Massaker am 7. Oktober gedreht. Das brutale Morden der Hamas verurteilt er aufs Schärfste. Aber er sagt auch, nachzulesen im aktuellen „Zeit“-Porträt des 73-jährigen Regisseurs: „Wir befinden uns in einem ideologischen Tsunami, der von Netanjahu und seiner rechtsextremen, ultraorthodoxen und rassistischen Koalition gesteuert wird. Sie drohen das Land in eine religiöse Autokratie zu verwandeln.“

Sein Film entstand nicht zuletzt als Reflex auf die Protestbewegung im letzten Sommer gegen den Rechtsruck und die Justizreform der Regierung.

Ionescos antitotalitäres Stück „Die Nashörner“ von 1957, ein Klassiker des absurden Theaters, klingt in „Shikun“ aber lediglich streckenweise an. Tierische Dickhäuter kommen nicht ins Bild, nur eine Werkstatt, in der Hörner aus Holz gefertigt werden. Eine der Protagonistinnen bindet sich eins auf die Stirn. Der Schauplatz: ein riesiger Sozialwohnbaukomplex (Hebräisch: Shikun) in Be’er Sheva, laut Gitai das längste Gebäude im Mittleren Osten, mit einem 250 Meter langen Außenkorridor.

Der israelische Regisseur Amos Gitai, 1950 in Haifa geboren, lebt in Israel und in Paris.  
Der israelische Regisseur Amos Gitai, 1950 in Haifa geboren, lebt in Israel und in Paris.  

© Laura Stevens/Laura Stevens

Hier folgt die Kamera in langen, ungeschnittenen Sequenzen nicht nur Irène Jacob. Flüchtlinge aus der Ukraine bekommen eine Wohnung zugeteilt, im Hebräisch-Unterricht hocken Inder, eine Belarussin und eine Russin, die Bauleitung streitet mit dem Architekten über einen Umbau des Komplexes. Einer erzählt von den Todesmärschen unter den Nazis 1945, ein anderer singt „It’s not over yet“ zur Gitarre, ein Frau stimmt ein ukrainisches Liebeslied an.

Nach und nach begibt sich die Kamera in die Eingeweide der brutalistischen Betonarchitektur. Ein Spielmannszug mit Saxofonen und Dudelsäcken marschiert durch eine vernagelte Mall, Transport- und Putzwägelchen kreiseln zwischen Müll und unterirdischem Busbahnhof. Man spricht Arabisch, Jiddisch, Palästinensisch, Ukrainisch. Dem Flow der auf einen E-Roller montierten Kamera entspricht der unentwegte Wechsel der Sprachen. Israel als Judenstaat und Vielvölkerstaat, als Gesellschaft der Einwanderer, immens unter Druck: „Shikun“ choreografiert das Chaos.

Gitai erkrankte nach dem 7. Oktober schwer

Amos Gitai, der nach dem 7. Oktober schwer erkrankt war, ist mit dem Filmteam nach Berlin gekommen, eine Pressekonferenz zur „Shikun“-Premiere gibt er nicht. Mit den Traumata und Dilemmata seines Landes hat er sich in mittlerweile über 60 Filmen herumgeschlagen. Mit dem Erbe des Holocaust – seine Vorfahren kamen schon Anfang des 20. Jahrhunderts nach Israel, auf der Flucht vor den russischen Pogromen –, mit dem Jom-Kippur-Krieg, in dem er als junger Soldat Schreckliches erlebte, mit der Ermordung des Friedenshoffnungsträgers Izchak Rabin. Gitai kann nicht aufhören, auf ein friedliches Zusammenleben zu setzen, und sei es wider besseres Wissen. Auch „Shikun“ entstand gemeinsam mit israelischen und palästinensischen Darsteller:innen.

„Unsere Kinder werden fragen: Wie konntet Ihr nur?“: ein Text von Amira Hass, der Journalistin, die lange für „Ha’aretz“ aus Gaza und der Westbank berichtete. Ein Bilderbuch von Kindern aus Theresienstadt. Das Gedicht „Denk an die anderen“ des palästinensischen Poeten Mahmud Darwisch, ein Psalmvers und etliches mehr: „Shikun“ collagiert wechselnde Perspektiven, Gedanken zu Mitläufertum, Feindesliebe, Feigheit und Zivilcourage, Anklagen auch. So ist der Film Protestnote und Rätselbild, Utopie und Dystopie zugleich.

Kein Wunder, dass Irène Jacobs Figur an all dem verzweifelt: Die Fragen, die „Shikun“ formuliert, stellen sich seit dem 7. Oktober noch dringlicher.

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