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Anhalter Bahnhof: Es werde Hönkel

"Kapitalismus abschaffen", lautet ihre Losung. Klar doch. Gegen den Kapitalismus sind auch zahlreiche Künstler und ihre Galeristen. Das weist auf einen weiteren Schauplatz des 1. Mai. An diesem Wochenende wird zum 6. Mal das "Gallery Weekend“ veranstaltet

Der 1. Mai naht. Doch mit ihm nicht nur das „Myfest“ als alternative Grillparty. Brüchig ist der Frieden: Neonazis sammeln sich im proletarischen Norden der Stadt, die „Revolutionäre 1. Mai“-Demonstration bevorzugt Kreuzberg und Neukölln.

„Kapitalismus abschaffen“, lautet ihre Losung. Klar doch. Gegen den Kapitalismus sind auch zahlreiche Künstler und ihre Galeristen. Das weist auf einen weiteren Schauplatz des 1. Mai. An diesem Wochenende wird zum 6. Mal das „Gallery Weekend“ veranstaltet, eine Leistungsschau der hiesigen Galeristen. „Die Hauptstadt erlebt die Kunstwoche des Jahres“, jubiliert die nicht unbedingt kultur-affine „Bild“. Das „Gallery Weekend“ ist Kapitalismus pur, da geht’s um die Ware Kunst; alle übrigen Kunstveranstaltungen machen, so das Blatt, Berlin zur Stadt der „KULTur“.

Nichts Neues unter der Sonne. 1987 diente die Kultur als Zierde der 750- Jahr-Feier Berlins. Viel Geld gab’s seinerzeit in West-Berlin, und womöglich hätte das Budget ausgereicht, um das heutige Griechenland vor der Pleite zu retten. Doch auch damals bekam nicht jeder etwas ab. Die linke Kulturintelligenz um die Zeitschrift „Ästhetik und Kommunikation“ wurde mit der Jubiläumsfeier versöhnt, indem sie noch und nöcher für ein Ausstellungsprojekt namens „Mythos Berlin“ auf dem verkommenen Gelände des Anhalter Bahnhofs bezuschusst wurde. Das passte der Kreuzberger Punk-Szene nicht, sie zog zum Anhalter Bahnhof, den sinnfreien Kampfruf „Hönkel“ rufend und kultige Aldi-Billigbierdosen schwenkend. Die Jugend begehrte Einlass zur Eröffnungsfeier – und ehe sich die Festgäste versahen, waren die durstigen Protestler auf dem Gelände. Randale wurde angezettelt, Regen setzte ein, und bald, sehr bald verwandelte sich die Spielwiese der Stadtphilosophen in ein einziges Gematsche. So verteidigte das eingesessene Kreuzberg seine kulturelle Deutungshoheit gegen die Flaneure aus Charlottenburg.

23 Jahre später deutet nichts auf eine Ästhetisierung des Protests. Künstler wärmen sich nicht länger an Billigbier, sondern beauftragen gezielt verkaufsgewandte Galeristen. Die Kulturschickeria stampft nicht mehr über aufgelassenes Bahngelände, sondern stöckelt durch die Häuser potenter Privatsammler. Aber was soll’s: Statt jammern und picheln lieber hammern und sicheln! Das jedenfalls war noch 1987 eine beliebte Losung; wenn auch nicht die der Spaß-Guerilla aus SO36. Heute wäre jeder Innensenator froh, wenn es beim Jammern und Picheln bliebe. Und die Polizei nicht den großen Hammer herausholen müsste.

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