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Ich tanze mit dir in den Himmel hinein. Anna Karenina (Keira Knightley) und Wronski (Aaron Taylor-Johnson).

© epd/Universal

"Anna Karenina": Der Stoff, aus dem die Frauen sind

Joe Wright feiert in seiner Neuverfilmung von Tolstois „Anna Karenina“ – mit Keira Knightley – die bedingungslose Liebe.

Eros und Eisenbahn! Es handelt sich um ein oft unterschätztes Verhältnis, bei Modelleisenbahnern ebenso wie bei Cineasten. Befragten fällt die Schlussszene aus Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“ ein. Und vielleicht noch Marilyn Monroes rockauffliegendes Missgeschick auf einem New Yorker Lüftungsschacht, aber der Schacht gehört zur U-Bahn! Und der spätere Heißwasserdampfstoß zwischen die schönsten Beine einer inzwischen weltbekannten Damenkapelle war nur die Reminiszenz. Das Urbild aller Eisenbahnerotik aber steckt in „Anna Karenina“ – frisch angerichtet in der Version von Regisseur Joe Wright („Stolz und Vorurteil“, „Abbitte“), der die Kühnheit besaß, den zehn großen Verfilmungen von Tolstois Drama um eine untreue Ehefrau die elfte hinzuzufügen.

Auch hier beginnt alles im Zug. Die schöne junge Frau des Petersburger Regierungsbeamten Karenin fährt nach Moskau, um ihren Bruder zu besuchen. Sie teilt das Abteil mit der Mutter des Moskauer Offiziers Wronski. Die beiden sprechen, worüber die Frauen aller Jahrhunderte wohl immer zuerst geredet haben: über ihre Söhne. Nur ist jener der Offiziersmutter schon bestürzend erwachsen, der andere jedoch noch ein Kind; die junge Mutter lässt ihn zum ersten Mal allein. Das ist die dramatische Exposition. Bereits sie enthält alle späteren Konflikte.

Eros und Winter! Ausnahmslos alle „Anna Karenina“-Verfilmungen haben besondere Aufmerksamkeit auf die Lokomotive gelegt. Sie ist ein stampfender mobiler Eis- und Schneeberg, und – selbst wenn in dieser Kategorie Julien Duviviers Verfilmung von 1948 unerreicht bleiben sollte – auch Wright widerlegt die derzeit geläufige Annahme, wonach Schneeflocken auf Bahngleisen unweigerlich zum Verkehrsinfarkt führen, auf bildmächtigste Weise. Berliner S-Bahn-Verhältnisse hätten an den Zentralnerv des Zeitalters gerührt – wir aber befinden uns im Jahr 1874. Die Unbeirrbarkeit, mit der die Eisenbahn Anna Karenina nach Moskau bringt, ist die Unbeirrbarkeit des Fortschritts selbst, auch seine Zwangsläufigkeit.

Alle Statiken, alle Gemächlichkeiten, alles Das-war-schon-immer-so, jedes Von-Ewigkeit-zu-Ewigkeit wird er fortreißen, auch im Verhältnis zwischen Mann und Frau. Drei der größten Schriftsteller Europas arbeiteten längst daran: Zuerst Flaubert in „Madame Bovary“, dann Tolstoi, gefolgt von Fontanes „Effi Briest“. In Alice Schwarzers Geburtstagswoche ist es vielleicht nicht ganz unangebracht, daran zu erinnern, dass Europas männliche Schriftsteller die ersten Feministinnen waren. Tolstoi selber hielt nicht viel von der Eisenbahn. Sie sei für das Reisen ungefähr das, was das Bordell für die Liebe sei. Eine entseelende Beschleunigung.

Doch zurück zum Moskauer Bahnhof. Der Zug hält. Die Mutter des kleinen Sohnes sieht in die Augen des großen Sohnes der anderen. Unvergesslich, wie die Dampfschwaden einst einen Schleier nach dem anderen von Greta Garbos schönem, ein wenig statuenhaften Gesicht fortzogen.

Greta Garbos Anna Karenina verkörperte 1935 wohl am besten das, was man auch „sittliche Reife“ nennen könnte, ein wenig wirkte sie schon wie später Lubitschs „Ninotschka“, die Agentin der Weltrevolution: als schaute sie grundsätzlich aus den geschlossenen Abteilfenstern des Lebens. Keira Knightley nicht. Aus ihrem schönen Gesicht leuchtet eine Lust aufs Dasein, die doch nichts Vordergründiges, Kokettes oder auch nur Püppchenhaftes hat wie etwa bei Vivien Leigh, der wohl schlechtesten Anna-KareninaDarstellerin aller Zeiten.

Aus schwarz wird weiß

Aber eine große Parallele zu Julien Duviviers Film gibt es doch. Im schwarzen Kleid erscheint Anna Karenina auf dem großen Ball; Kitty, die Tochter ihres Bruders, die in jedem Augenblick auf Wronskis Heiratsantrag hofft, kommt in Weiß. In bräutlichem Weiß, im Weiß der Naivität, der Unschuld auch. Der Ball entscheidet alles – hier wie dort. Er macht Wronski und Anna zum Paar, noch ehe sie selbst es wissen; er macht aus Kitty (ebenso unverstellt wie grenzenlos enttäuschbar: Alicia Vikander, eine Verlassene, noch vor dem ersten Antrag. Aus schwarz wird weiß, gewissermaßen.

Vielleicht ist dieser Ball der Mittelpunkt des Films. Großartig, wie Wright das choreografiert, ja wie er diese 130 Minuten choreografiert, und die Künstlichkeit ist durchaus doppelt geerdet. Denn wir sitzen gleichsam im Theater, und das nicht nur, weil aus Kulissen vor unseren Augen Innenräume entstehen. Das Theater, der öffentliche Ort der gehobenen Gesellschaft schlechthin. Hier ereignen sich die Tragödien auch im Zuschauerraum, im Sehen-und-Gesehenwerden, und das Stück vorn auf der Bühne ist nur eines unter anderen.

Diese Atmosphäre einer virtuosen Künstlichkeit erlaubt es Wright auch, eine Ausstattungsorgie zu beginnen, ohne sich als Kostümfilmer belächeln lassen zu müssen. Ja, es ist eine Augenlust, und der Fortschritt, ahnen wir, mitunter eine sehr kahle Angelegenheit. Doch reden wir über die Männer.

Noch nie war Annas Ehemann so gerecht, liebenswert, ja attraktiv dargestellt wie hier durch einen rapide künstlich gealterten Jude Law. Man denke nur an den Dschingis Khan mit fester Anstellung bei Duvivier und die übrigen fingerknackenden Biedermänner der Filmgeschichte. Auch Laws Karenin muss dieses seine Frau so schwer beeinträchtigende Geräusch hervorbringen, aber wer sagt denn, dass man Menschen mit werdender Arthritis nicht lieben kann?

„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“, hat Tolstoi gesagt. Jude Laws Karenin ist viel mehr als ein kalter, sittenstrenger Richter über seine junge Frau, allerdings birgt er auch ein gewisses Risiko: Was will sie bloß von diesem blässlichen Wronski (Aaron Taylor-Johnson)? Sicher, ein Offizier ist etwas anderes als ein Beamter. Und noch einmal anfangen dürfen, noch einmal … all das Bedingungslose tun und fühlen inmitten der ausweglosen Bedingtheit, die wir Leben nennen.

Aber welche Ernüchterungsmöglichkeiten, welche Bedingtheiten auch im Verhältnis der vermeintlich Bedingungslosen zueinander wohnen: Das zu zeigen, ist die Stärke von Wrights Verfilmung, es hebt Tolstois Roman in die Gegenwart, selbst wenn manche Übergänge gegen Ende leicht das Trashige streifen.

In den Anna-Karenina-Charts aller Zeiten gebührt Wrights Film mindestens ein Platz im vorderen Mittelfeld – unter der Voraussetzung allerdings, dass man auf die Frage „Warum bleibt sie nicht gleich bei ihrem Mann?“ verzichtet. Den ersten Platz aber belegt vielleicht noch immer Alexander Sarchis nach Musik und Schnitt so avantgardistischer wie in der Figurenzeichnung schneidend behutsame „Anna Karenina“ von 1967. Auch wenn Tatjana Samoilowa hier fast allen Zauber verloren hat, der sie zehn Jahre vorher umgab, in Michail Kalatosows „Wenn die Kraniche ziehen“.

Ab Donnerstag in zwölf Berliner Kinos; OV im Cinestar SonyCenter, OmU im Odeon und den Hackeschen Höfen

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