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Teilnehmer der Demonstration "#ausgehetzt - Gemeinsam gegen die Politik der Angst" vor einem CSU-Plakat in München.

© Andreas Gebert/dpa

Das Modewort 2018: Anstand kann die Gesellschaft nicht heilen

Es ist die rhetorische Universallösung für die Probleme unserer Zeit. Dabei ist gar nicht klar, worüber wir reden, wenn wir vom Anstand sprechen. Ein Essay.

Ein Essay von Hannes Soltau

Nach dem schmachvollen frühen Ausscheiden der Nationalmannschaft bei der Fußball-WM bekamen die Deutschen am Ende des Jahres 2018 doch noch ihr dramatisches Finale geboten: den Bundesparteitag der CDU. Endlich sollte eine Entscheidung für Angela Merkels Nachfolge fallen, endlich eine neue Einigkeit in der Partei, nein, gar für die ganze Bundesrepublik gefunden werden. So zumindest verkauften es die Christdemokraten.

In riesigen weißen Lettern auf blauem Hintergrund war hinter der Bühne zu lesen: „Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“. Das klang gut. Nur was soll den Scherbenhaufen der Partei, was den erodierenden Zusammenhalt in der Gesellschaft kitten? Wer gut zugehört hatte, konnte die Antwort bereits in den Wochen zuvor heraushören: der Anstand.

Friedrich Merz legte vor, indem er einen „anständigen Wettstreit“ einforderte, an dessen Ende er sich im Falle eines Sieges gewiss „fair, anständig und loyal“ gegenüber der Kanzlerin verhalten wollte. Unanständig sei es hingegen keineswegs, dass er, der millionenschwere Wirtschaftslobbyist, sich als Teil der Mittelschicht bezeichnet. Schließlich habe er von seinen Eltern bürgerliche Tugenden wie „Fleiß, Disziplin“ und natürlich „Anstand“ mitbekommen.

Beliebte Suchanfrage im Internet: Anstand

Jens Spahn hielt dagegen, man müsse „den AfD-Wählern eine Alternative mit Anstand bieten“, denn schließlich seien es gerade „Anstand, Werte, Tugenden“, die die deutsche Leitkultur ausmachten. Und Annegret Kramp-Karrenbauer beklagte, dass im unionsinternen Streit gegen jene Anstandsregeln verstoßen worden sei, die doch gerade eine bürgerlich-konservative Partei auszeichneten. Für zukünftige Diskussionen erwarte sie daher, dass diese „anständig im Ton“ blieben.

Vor lauter Anstand konnten einem glatt die Ohren sausen. Doch damit lag die CDU voll im Trend. Glaubt man den Statistiken in Suchmaschinen, dann war 2018 das Jahr des Anstands. Nie zuvor suchten so viele Menschen nach dem Begriff. Anfang September stieg das Interesse an ihm im Internet auf ein neues Allzeithoch. Das war kurz nach den Vorfällen in Chemnitz, als Campino, Sänger der Toten Hosen, verkündete: „Es geht nicht um links oder rechts, sondern um politischen Anstand.“

In der Politik ging es schon immer um die Deutungshoheit. Seit jeher versuchen Parteien Assoziationen mit bestimmten Wörtern zu erwecken, Emotionen zu vermitteln. Und Anstand, ausgerechnet dieser doch arg verstaubte Begriff, sollte 2018 das Wählerherz erwärmen.

Zwischen Ehrenkodex, Benimmregeln und Mitgefühl

Im bayerischen Wahlkampf sprang der sprichwörtliche Funke des Anstands auf nahezu alle Parteien über: Die SPD ließ großformatige Plakate aufstellen, auf denen die Spitzenkandidatin Natascha Kohnen hinter dem monströsen Schriftzug „Anstand“ zu verschwinden drohte, verbunden mit der Forderung nach „Zusammenhalt und Menschlichkeit“. Kohnen unterstrich, dass Anstand „mehr Respekt in den Debatten statt schriller Parolen“ und „ein moralisches Verantwortungsgefühl in der Politik“ bedeute

Die CSU forderte wiederum ein „Ja zum politischen Anstand“. Die Grünen verpflichteten sich im Wahlprogramm zum Anstand gegen den „verrohten Ton im politischen Alltag“. Schon zuvor hatte die bayrische FDP einen „gebotenen Anstand im Umgang mit Pressevertretern“ eingeklagt. Die Freien Wähler hatten sich da schon längst den Slogan „Die anständige Alternative“ verpasst. Also was nun? Traditionsbewusstsein, Ehrenkodex, Benimmregeln oder Mitgefühl?

Wer Anstand fordert, setzt beim Einzelnen an. Doch was dieser unter dem Begriff fasst, bleibt mehr als diffus. Und eine natürliche moralische Instanz im Menschen, an die der Appell gerichtet werden kann, gibt es nicht. Auch Heinrich Himmler beanspruchte den Anstand für sich. In seiner Posener Geheimrede vom Oktober 1943 vor NS-Würdenträgern sagte er: „Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei (...) anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein (...) Ruhmesblatt unserer Geschichte.“

Unanständigkeit als Konsequenz der Gesellschaft

Wer Lösungen für die komplizierten Zeiten finden möchte, in denen wir leben, sollte also nicht dabei stehen bleiben, dem Menschen auf den Grund zu schauen, sondern der gesellschaftlichen Verfasstheit, die ihn prägt. Denn rücksichtslos ist nicht nur das individuelle Fehlverhalten wie das Verweigern seines Sitzplatzes gegenüber älteren Menschen oder der raue Umgangston unter Kollegen.

Die zentralen Schaltstellen der Gesellschaft sind von Skrupellosigkeit durchdrungen. Ob Cum-Ex, der größte Steuerbetrug in der Geschichte der Bundesrepublik, der Volkswagen-Dieselskandal oder Schmiergelder bei Siemens: Lug und Betrug sind im Tagesgeschäft üblich. Unanständiges Handeln scheint kein Widerspruch zur bestehenden Wettbewerbsgesellschaft zu sein, sondern ihr konsequenter Ausdruck.

Ein gutes Miteinander ist folglich nicht nur die Summe des Anstands Einzelner. Es ist die Einrichtung der Gesellschaft, die ein gutes Miteinander erst ermöglicht. Und wäre nicht ausgerechnet das die Aufgabe jener Politiker, die heute so gerne den Anstand ihrer Staatsbürger einfordert?

Der Aufruf zu Anstand ist machtlos

Die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Allgemeinheit ist gestört. 40 Prozent der Deutschen können sich momentan ein autoritäres Regime vorstellen, ergab eine Studie der Universität Leipzig. Das zunehmende ökonomische Auseinanderdriften der Gesellschaft führt auch dazu, dass Lebenswelten auseinanderfallen. Auf dem Feld des Moralischen, wo einst um die Wahrheit gestritten wurde, entstehen parallele Wertesysteme. Dagegen ist der Aufruf zum Anstand so machtlos wie der Hippie-Slogan „Make love, not war“. Er ist verdammt dazu, in den Vorstandsetagen, Fabrikhallen und Wartesälen der Jobcenter zu verhallen.

Dass die Elastizität, die der Begriff aufweist, seine Bedeutung bis zur Beliebigkeit ausdehnen lässt, hat auch etymologische Gründe. Ausgerechnet im Kriegswesen begann der Aufstieg des Anstands. Hier bezeichnete er schon im Spätmittelalter den Aufschub von Kampfhandlungen, heute würde man sagen: einen Waffenstillstand. So ist der Friedensschluss zwischen den Vertretern der christlichen Konfessionen im Jahr 1532 auch heute noch als „Nürnberger Anstand“ bekannt.

Das 18. Jahrhundert war dann das Zeitalter der Anstandsliteratur, jener populären Werke, in denen gesellschaftliche Umgangsformen präzise festgehalten wurden. Der Anstand betraf hier „das Verhältniß des äußern Betragens mit den innern Vollkommenheiten, die man hat, oder doch vermöge seines Standes und Berufes, und der jedesmahligen Umstände haben sollte“, wie es der Bibliothekar Johann Christoph Adelung zusammenfasst.

Ein Begriff mit vielen Bedeutungen

Im Fokus stand damals das Schickliche, also das, was sich ziemt. Es handelte sich dabei um die reine Erfüllung einer standesgemäßen Erwartungshaltung. Das betraf alles, was von Konventionen geregelt werden konnte: das Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht, Tischmanieren und Kleiderordnung. Dass aber mit reiner Konformität im Zusammenleben noch nichts gewonnen ist, erkannte schon Immanuel Kant: „Überhaupt ist alles, was man Wohlanständigkeit nennt, von derselben Art, nämlich nichts als schöner Schein.“

Die verfeinerten Umgangsformen dienten zwar schon damals als sozialer Schmierstoff und beugten Konflikte vor. Andererseits war der Anstand hierbei auch ein Distinktionsmerkmal, das Klassenunterschiede hervorhob, das niedere Volk von der Oberschicht trennte. Noch heute wird ein Mensch mit unkultivierten Umgangsformen, vulgärer Sprache und bildungsfernem Hintergrund als „Prolet“ bezeichnet.

Die modernen Refugien dieses Standesdünkels sind aber längst nicht nur Burschenschaften oder Opernbälle. Ausgerechnet dort, wo die souveräne Gleichheit aller friedliebenden Staaten der grundlegende Anspruch ist, wird peinlich genau auf ein Einhalten von Anstandsregeln gepocht: bei den Vereinten Nationen. Dort bietet man sogar ein Nachhilfeprogramm für den diplomatischen Nachwuchs an, in dem die Gepflogenheiten auf dem internationalen Parkett vermittelt werden.

Ein tugendhaftes Leben

Nach dem historischen Niedergang der Standesgesellschaft rettete sich ein Teil dieser Wohlanständigkeit in die bürgerliche Epoche. Die aufgeklärte Gesellschaft musste absichern, dass sie sich gegenüber dem Klerus kulturell und wirtschaftlich emanzipieren konnte. Dazu betonte sie Tugenden wie Ordentlichkeit, Sparsamkeit, Fleiß oder Pünktlichkeit.

Anstand wurde eine pragmatische Kategorie, eine Charaktereigenschaft, die von Eltern noch heute gerne eingefordert wird: „setz dich mal anständig hin!“, „isst du wohl anständig!“ oder „zieh dir was Anständiges an!“. Zahlreiche Worte wie Anstandsbesuch, Anstandsrest oder Anstandsfrist lassen noch den Widerwillen erahnen, den der Begriff im Menschen einst auslöste.

Als Friedrich Merz im Zuge seiner Bewerbung um den CDU-Vorsitz angab, er habe Werte wie „Fleiß, Disziplin, Anstand“ von seinen Eltern mitbekommen, wollte er damit auch herausstellen: Er hat eine gute Kinderstube genossen, weiß sich zu benehmen und hat sichtlich Erfolg damit.

Sexuelle Sittlichkeit für Frauen

Während ein „anständiger Kerl“ wie Merz dabei mit Attributen wie zuverlässig, ehrlich und charakterfest verknüpft wird, war das „anständige Mädchen“ hingegen schon immer eines, das auf sexuelle Freizügigkeit verzichtet. Davon zeugt auch noch der historische Begriff der „Anstandsdame“, jene einst übliche Praxis, dass eine ältere weibliche Person einer jüngeren unverheirateten Frau zur Seite gestellt wurde, um ihre sexuelle Sittlichkeit, sprich Jungfräulichkeit, abzusichern.

Ausgerechnet Adolph Freiherr Knigge, der Mann, der heute als Inbegriff des deutschen Anstands im Sinne strenger Benimmregeln und Manieren gilt, gab dem Ausdruck dann eine universelle moralische Dimension. Diese geht weit über das Verständnis heutiger Kurse für Business-Knigge oder Tischmanieren hinaus: „Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.“

Das ist nicht mehr so weit von dem entfernt, was das Wörterbuch der Soziologie heute noch als „selbstverständlich empfundener Maßstab für einen ethisch-moralischen Anspruch“ ausweist. Anstand ist nicht mehr nur eine Frage, wie der Mensch sich situativ korrekt verhalten oder tugendhaft sein Leben bestreiten kann, sondern ein Wert, der zu einer gelingenden, humanen Gesellschaft beiträgt.

Der Aufstand der Anständigen

Gerhard Schröder rief nach dem Brandanschlag auf die Synagoge in Düsseldorf im Jahr 2000 als Zeichen der Solidarität mit jüdischen Mitbürgern den „Aufstand der Anständigen“ aus. Wegschauen, sagte der Altkanzler damals, sei nicht mehr erlaubt. Aktionspläne gegen rechts wurden entworfen, im ganzen Land demonstriert. Anstand wurde zu einem Synonym für den Einsatz für Menschlichkeit.

Ministerpräsident Michael Kretschmer trat in diese Fußstapfen, als er vor wenigen Wochen in diesem Sinne an den Anstand der Sachsen appellierte. Es sei eine „Frage von Haltung“, sich für eine „positive, weltoffene und auch freundliche Stimmung“ einzusetzen.

Zurück zum „neuen Zusammenhalt für unser Land“, den die CDU fordert. Kann der Anstand zu einer zivilisierten Form einer Gemeinschaft beitragen? Kann der Anstand gar, Spahn folgend, die Funktion einer Leitkultur übernehmen?

Nein. Die Spannweite der Interpretation des Begriffs von gesellschaftlichem Konformismus bis hin zur Widerständigkeit könnte größer nicht sein. Die Hilflosigkeit des Aufrufs zum Anstand ist unübersehbar, wenn Melania Trump sich für den Anstand im Netz einsetzt, während Donald Trump genau dort hetzt. Man könnte sagen, sie missverstehen sich, man könnte aber auch einfach sagen: Es ist eine leere Vokabel. Die gut klingt, aber nichts löst. Wer Anstand sagt, hat noch nichts gesagt.

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