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Kultur: Arme Wurst

Das wahre Leben: Der Documenta-Künstler Artur Zmijewski porträtiert Berliner Malocher

Schon schreiben die ersten Zeitungen „So wird die Documenta“, schon kursieren Künstlerlisten im Internet. Und doch kann noch niemand wissen, wie es mit der international wichtigsten Ausstellung dieses Sommers wirklich wird, welche Werke zu sehen sein werden. Bis zur Eröffnung in drei Wochen müssen sich die Besucher gedulden. Immerhin hat der Documenta-Macher Roger M. Buergel schon monatelang vorab zwei Künstlernamen von seiner Liste verraten, als wollte er die Neugierigsten geradezu narren: den ersten im Alphabet, den spanischen Koch Ferran Adriá, und den letzten, den polnischen Foto- und Filmkünstler Artur Zmijewski. Von Zmijewski zeigte Buergel sogar das ausgewählte Werk, eine vor fünf Jahren entstandene Filmarbeit, mit der er für Furore gesorgt hatte: eine Gruppe Gehörloser, die in der Leipziger Thomaskirche Bachs Kantate „Jesu, der Du meine Seele“ einstudiert. Das Ergebnis ist eine Kakophonie der Töne, die dennoch zu Herzen geht, wenn man das inbrünstige Bemühen der tauben Sänger sieht.

Jetzt sitzt der Initiator dieses denkwürdige Experiments in einem Büro des Neuen Berliner Kunstvereins, im ersten Stock über den Ausstellungsräumen. Auch dort ist wieder eine wilde Geräuschkulisse zu hören, so laut, dass man sich kaum unterhalten kann. Zehn Filmporträts sind zu sehen aus der harten Welt der Niedriglöhner – da lärmen Bagger, da fauchen Wäschetrockner, da donnern Züge vorüber. „Diese Lautstärke, das muss so sein“, sagt der 39-jährige Pole mit Nachdruck, als wäre ihm die Unmöglichkeit eines Gesprächs über seine Arbeiten gerade recht. Denn oben, in der Stille des Büros, reagiert er auf Fragen eher unwillig, mit Schulterzucken. Ob ihn das frühe Bekanntwerden seiner Documenta-Teilnahme belastet habe? Nein, eher nicht. Da hatte Buergel seinen Z-Künstler richtig eingeschätzt, als er bei Bekanntgabe seines Namen erklärte, dass Zmijewksi Autist genug sei, um dem Druck standzuhalten.

Nun aber kommt ihm die öffentliche Aufmerksamkeit entgegen, genauer: dem Neuen Berliner Kunstverein. Denn bessere Werbung könnte es kaum geben, als eine Ausstellung mit einem Documenta-Künstler drei Wochen vor dem offiziellen Kasseler Start. Zmijewski ist bekannt als Spezialist für die Widrigkeiten des Lebens – und das auf eine besonders drastische Art. So war er in Berlin bereits mehrfach zu sehen, immer an prestigeträchtigen Orten – im Hamburger Bahnhof, in der Akademie der Künste, in den Kunst-Werken. Unter dem Titel „140 Zentimeter“ zeigte er Fotos von nackten Menschen, die genau diese Körperlänge besitzen: ein Beinamputierter, ein Zwergwüchsiger und ein Kind. Der Betrachter reagiert zunächst mit hellem Entsetzen, so genau wollte er das gar nicht sehen. Und doch umgibt eine besondere Würde die zur Schau gestellten Menschen, wie ein Schutzschild vor allzu neugierigen Blicken. Dieselbe Strategie setzte der Warschauer Künstler auch bei seiner Serie „Auge um Auge“ ein. Darin sind ebenfalls nackte Amputierte zu sehen, allerdings von hinten umschlungen von unversehrten Menschen, die ihnen das fehlende Bein, den fehlenden Arm sozusagen leihen.

Diesmal gibt es keine sichtbar Behinderten, keine Tauben, keine Einbeinigen, keine Nackten. Trotzdem erscheint manchem Betrachter Zmijewskis Aufnahmen erneut obszön. Denn der Künstler ist Menschen nachgestiegen, von denen er sagt: „Sie sind nur Masse.“ Ihr Leben sei „eine Form der Erniedrigung“. Vierundzwanzig Stunden begleitete er in Berlin den Alltag der Würstchenverkäuferin Patricia, des Baggerfahrers Dieter, der Putzfrau Ursula, ebenso anderer Billiglohn-Empfänger in Warschau, Syrakus und Juarez. Anschließend destillierte der Absolvent der Amsterdamer Gerrit-Rietveld-Akademie aus dem Drehmaterial 15-minütige Porträts.

Auch hier erfolgt als erste Reaktion: So genau wollten wir gar nicht wissen, wie die Tage und Nächte fremder Menschen aussehen. Das ist doch viel zu intim, ob einer nun schnarcht oder vor Schichtbeginn seine Kinder mit Küsschen in der Kita verabschiedet. Nun ist also Kunst geworden, dass sich Dieter abends schon seine Stullen schmiert, bevor er am nächsten Morgen zur Schicht aufbricht, dass Patricia Kette raucht und Ursula auch zu Hause ohne Unterlass putzt, bevor sie die Büros fremder Leute nach Dienstschluss wienert und saugt. Die Porträts entwickeln eine merkwürdige Sogwirkung, ein Effekt, der stets bei menschlichen Schicksalen eintritt. Nicht Mitleid beschleicht den Betrachter, wie vom Künstler intendiert angesichts der sich rund um den Globus wiederholenden Plackerei von Menschen ohne Ausbildung und Aussicht auf bessere berufliche Chancen. Stattdessen steigt die Achtung vor dem, was diese „Unsichtbaren“ (Zmijewski) Tag für Tag leisten.

Der Filmemacher gibt den Porträtierten zwar eine Präsenz im Kunstumfeld, doch bleibt er selbst ihnen merkwürdig fremd, ja, er kannte sie nicht einmal persönlich, bevor er mit seinem Filmequipment zu ihnen stieß. Den Kontakt zu Patricia, Dieter und Ursula hatte der Neue Berliner Kunstverein hergestellt. „Sollten wir etwa Freunde werden?“, gibt er leicht verärgert zurück. Und plötzlich beginnt der wortkarge, schwere, große Mann doch zu reden, von dem man sich schon zu fragen begann, wie so jemand die Nähe von Menschen gewinnen kann. „Ich will, dass Kunst effektiv ist, dass sie Wissen produziert, das sie ein Problembewusstsein herstellt. Sie soll Lösungsvorschläge machen.“ Wie sie das leisten kann, sagt er leider nicht mehr. Aber plötzlich wird klar, dass Zmijewski die perfekte Wahl für die Documenta darstellt. Auch Buergel spricht immer wieder von der Aktivierung des Menschen durch Kunst, den sozialen Impuls. Nur bleiben Ursula, Dieter und Patricia dieser Utopie bei all ihrer mühevollen Arbeit denkbar fern.

Neuer Berliner Kunstverein, Chausseestr. 128/129, bis 24. Juni. Di – Fr 12 – 18 Uhr, Sa / So 14 – 18 Uhr. Katalog 15 €.

Der Warschauer Künstler Artur Zmijewski (39) studierte in Amsterdam. Der Neue

Berliner Kunstverein zeigt nun die Video

Arbeiten des

präzisen Menschenbeobachters.

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