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Volker Braun 2014 in der Akademie der Künste Berlin

© imago/gezett

Volker Brauns Gedichtband "Luf-Passion": Auch der Schatten auf dem Sand ist heilig

Volker Braun kommentiert in seinem Gedichtzyklus „Luf-Passion“ die Grausamkeiten des Kolonialismus.

Ein üppig ornamentiertes Langboot von der Südseeinsel Luf ist zum Symbol geworden für das finstere Vermächtnis des deutschen Kolonialismus. In den späten 1890er Jahren von der indigenen Bevölkerung der Insel aus dem Holz des Brotfruchtbaums erbaut, gelangte das Luf-Boot 1903 in den Besitz des deutschen Handelsagenten Max Thiel, wobei an dessen Behauptung, er habe das Boot rechtmäßig erworben, erhebliche Zweifel angebracht sind. 1907 verkaufte Thiel das Boot dann an das Völkerkundemuseum in Berlin, seit Herbst 2021 wird es nun im Humboldt Forum präsentiert.

Götz Alys Studie „Das Prachtboot“ hat im vergangenen Jahr die öffentliche Debatte über das prominente Exponat im Humboldt Forum und über die unverhohlene Raffgier der kolonialistischen Akteure weiter befeuert.

Einen hellsichtigen poetischen Kommentar zur Logik kolonialistischer Grausamkeit legt nun auch Volker Braun mit seinem dramatischen Gedicht zur Geschichte des Luf-Boots vor. Brauns Gedichtzyklus wurde bereits Anfang 2022 in der Zeitschrift „Sinn und Form“ publiziert und ist nun als zweisprachige Buchausgabe im Verlag Faber & Faber erschienen, ergänzt um Collagen von Thomas Walther und mit einer von Ann Cotten angefertigten Übersetzung ins Englische.

Geschichtsphilosophisch denkender Autor

Der Stoff ist wie geschaffen für einen geschichtsphilosophisch denkenden Autor wie Volker Braun, der seit seinen literarischen Anfängen immer wieder die vom Turbokapitalismus forcierten Eroberungen und Verwüstungen des Planeten mit starken poetischen Bildern aufgezeichnet hat.

Auch diesmal gelingt es Braun eindrucksvoll, in seinem 18teiligen Rollengedicht ("Luf-Passion", Faber und Faber, 180 Seiten, 20 €.) die historischen Akteure als poetische Stimmen miteinander zu konfrontieren und mittels einer furiosen Montagetechnik zu einem großen Gesang auf die Schreckensgeschichte des Kolonialismus zu verbinden.

Es zeugt von großer Kunst, wie Volker Braun hier aus Originalbriefen aus dem Kaiserreich und Gedichten prominenter Kollegen wie zum Beispiel Johannes Bobrowski einen poetischen Text webt, der wie in seinen früheren Werken mit dem dramatischen Blankvers spielt und die historischen Texte mit rhythmischer Energie auflädt.

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Gleich zum Auftakt wird der Anfang der biblischen Schöpfungsgeschichte mit den Urszenen des kolonialistischen Größenwahns synchronisiert. So beginnt die „Passion“ fast liturgisch mit Zeilen der Genesis, an die sich Verse anschließen, die den großen Aufbruch der Kolonialmächte nach Ozeanien vergegenwärtigen.

Der deutsche Unternehmer Eduard Hernsheim, der mit Kokosnüssen und Trepang handelte, hatte seine Geschäfte Ende des 19. Jahrhunderts auch rund um die nur sieben Quadratkilometer große Insel Luf betrieben, die damals noch zum Bismarck-Archipel gehörte, einem sogenannten „Schutzgebiet“ des deutschen Kaiserreichs.

Gegen unbotmäßige Insulaner, die sich gegen kolonialistische Übergriffe zur Wehr setzten, wurden brutale Strafaktionen verhängt, was im Fall der Insel Luf zur Auslöschung des Großteils der Bevölkerung führte. Hier wechselt Braun die Perspektive und spricht im Abschnitt „Ozeanien“ aus der Perspektive der Insulaner, die miterleben, wie auf dem Beutezug der Kolonialisten die ihnen heiligen Bäume entehrt und ihre Seelen geraubt werden: „Wir liefen den Strand lang, wo sind / Unsere Seelen, die uns heilig sind / Nämlich auch der Schatten / auf dem Sand ist heilig. Alles was der Mensch / Berührt, ist sein Spiegel.“

Das Schicksal von Patrice Lumumba

Unter den europäischen Handelsleuten waren auch kritische Geister, die die blutige Verfolgung der Insulaner und deren Verschleppung in die Zwangsarbeit missbilligten. Es triumphierte aber letztlich die kalte Rationalität der Ausbeutung und das, was Braun eine „globale Schuld-/ Verschreibung völkerverbindenden Unrechts“ nennt.

Sein Poem kulminiert in der „Fahrt des toten Häuptlings“, der halluzinatorischen Vision einer letzten Ausfahrt des Luf-Bootes „auf der Tropenlinie“. Hier schlägt der Text einen Bogen ins mittlere 20. Jahrhundert, zum Schicksal von Patrice Lumumba, des ersten frei gewählten Ministerpräsidenten im postkolonialen Afrika, der 1961 von Verschwörern im Kongo ermordet wurde.

Dieser Mord ist zur Schlüsselszene geworden für den fortdauernden Machtanspruch des kolonialistischen Denkens und fügt sich hier gut in die dokumentarisch inspirierte, aber letztlich poetisch-imaginativ konstruierte „Luf-Passion“.

Ann Cottens Übersetzung folgt sehr akribisch dem Duktus und dem Bildprogramm von Brauns „Passion“, ohne größere Freiheiten für sich in Anspruch zu nehmen. Den „toten Häuptling“ freilich übersetzt sie zeitgemäßer mit „dead elder“, also dem „toten Ältesten“. Am Ende läuft Brauns Gedicht auf Thesen seiner Übersetzerin zu, die Cotten in einem Vortrag im Juni 2021 formuliert hat – in einem dringlichen Appell zur Rettung der Welt vor expansiver Usurpation: „Wir / Müssen aufhören aufhören / Auf Nacken von andern zu knien / die nicht atmen können“.

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