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AUSGEHEN: Der Philosoph aus Gambia

Hopp, hopp, hopp, jump, jump, jump! Der Sänger mit der Spiegelsonnenbrille brüllt zum x-ten Mal seine Hüpfaufforderung ins Mikro.

Hopp, hopp, hopp, jump, jump, jump! Der Sänger mit der Spiegelsonnenbrille brüllt zum x-ten Mal seine Hüpfaufforderung ins Mikro. Den linken Arm reißt er im Takt auf und ab, die Menge folgt seiner Bewegung. Es sieht aus wie ein gigantisches Dribbling auf der Stelle, bei dem die Fans der Ball sind. Springend und schwitzend feiern sie eine große Verbrüder- und Verschwesterung zu dem fröhlichen Dancehall-Ska-Klezmer-Rock-Mix der neunköpfigen Combo, die ihre Texte auf Deutsch, Englisch, Ungarisch und Russisch singt.

Es ist Samstagabend in einem alten Kreuzberger Club. Das Gespringe geht schon seit über einer Stunde so, die Leute haben Kondition, zwischendurch trinken sie mal einen Wodka und halten sich größtenteils ans Rauchverbot. Wir schunkeln zu viert ein wenig abseits der Epizentren. Auf einmal bahnt sich ein kleiner Mann mit blauer Jacke grinsend den Weg in unsere Gegend. Er wippt ein bisschen vor uns herum, in der rechten Hand einen fetten Joint. Er bietet mir einen Zug an. Ich lehne lächelnd ab. Er stellt sich als Miles vor, wir geben uns die Hand.

„Aus Berlin?“, fragt er. „Ja, du auch?“, sage ich. „Seit einiger Zeit schon, aber ursprünglich komme ich aus Gambia“, antwortet Miles und nimmt noch einen Zug aus der Tüte. Ob ich wisse, wo das liegt. Einfach nur „Afrika“ zu sagen, wäre mir peinlich, genauer weiß ich es aber nicht und entscheide mich für ein Ausweichmanöver: „Auf jeden Fall ziemlich weit weg von Berlin.“ Miles fixiert mich und wird plötzlich ernst. „Berlin ist von Gambia nicht so weit entfernt wie Gambia von Berlin“, sagt er und betont seine Worte mit einer fuchtelnden Handbewegung. Wow, vor mir steht ein kiffender Philosoph. Und ob seiner haikuhaft vorgetragenen Einsicht wird mir schlagartig bewusst, dass sowohl auf der Bühne als auch davor viele Menschen tanzen, die diese Art von Entfernungsasymmetrie schon einmal erfahren haben dürften – im Gegensatz zu mir als Frau mit EU-Pass.

Langsam wollen wir los. Ich verabschiede mich von Miles. Zu Hause suche ich am nächsten Tag Gambia auf dem Globus. Es ist ein schmales, kleines Land in Westafrika, das komplett vom Senegal umschlossen ist. Luftlinie liegt Berlin rund 5000 Kilometer entfernt. Für Miles fühlt es sich deutlich weiter an.

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