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Im Licht von Himmel und Wasser. Ponte dei Pugni von John Ruskin, die „Brücke der Fäuste“ mit Blick auf San Barnaba.

©  Ruskin Foundation (Ruskin Library, Lancaster University), Lancaster

Ausstellung über John Ruskin: Der verlorene Zauber Venedigs

Der Maler und Kunsthistoriker John Ruskin kämpfte im 19. Jahrhundert für die Rettung der Lagunenstadt. Nun ist sein eigenes Werk im Dogenpalast zu sehen.

Wer den Dogenpalast besichtigen will, tut gut daran, pünktlich zur Öffnung um acht Uhr dreißig zu erscheinen. Spätestens eine Stunde später nämlich wimmelt es von kopfstarken Gruppen, die einer Führungsperson mit Fähnchen hinterherlaufen, bereit, den Dogenpalast wie auch den benachbarten Markusdom und überhaupt das „ganze“ Venedig als Besichtigungsmarathon abzuhaken.

John Ruskin kannte dieses Problem nicht. Er hätte es sich auch nicht vorstellen können. Als er 1851 sein bekanntestes Buch veröffentlichte, den ersten der insgesamt drei Bände von „The Stones of Venice“, sah er in seiner Einleitung Venedig kurz vor dem Ende: Die Stadt befinde sich bereits „im letzten Abschnitt ihres Niedergangs“, sie sei nicht mehr als ein „Geist über dem Sand des Meeres, so schwach, so still, so sehr allem bis auf ihre Lieblichkeit beraubt“, nicht mehr als ein „schwacher Widerschein im Spiegel der Lagune“. Als Hoffnung gab er dem Leser mit, er wolle es „wagen, die Linien dieses Bildes nachzuzeichnen, bevor es für immer verloren ist“.

Ruskin studierte die gotische Architektur der Stadt

Nun, das letzte Kapitel Venedigs ist bis heute nicht geschrieben, und angesichts der geschätzten vierzig Millionen Touristen, die sich alljährlich über die Stadt ergießen, scheint sie doch weit robuster zu sein, als Ruskin sie zu seiner Zeit sah. John Ruskin (1819–1900) hatte, als er den ersten Band seines Venedig-Buches veröffentlichte, zuvor zwei Jahre lang überwiegend in der Lagunenstadt gelebt und ganz besonders die gotische Architektur studiert, die für ihn den herausragenden Beitrag Venedigs zur Geschichte der Baukunst darstellte. Wie es um diese Architektur stand, als Ruskin „jeden Stein nachzeichnen“ wollte, machen Fotos insbesondere des Ca’ d’Oro deutlich, als dieser einst mit purem Gold verkleidete Palast am Canal Grande Mitte des Jahrhunderts baufällig war und nur mit Mühe vor dem Abriss bewahrt werden konnte.

Zu sehen sind die Fotos in der Ausstellung „John Ruskin. Die Steine Venedigs“ im Dogenpalast. Dort aber wird sie von den Touristen, denen sie doch einen Spiegel vorhält, weitgehend gemieden. Sie geht um ein paar Monate dem 200. Geburtstag Ruskins Anfang 2019 voraus. Nur jetzt noch konnten all die Originale aus der Ruskin Library der englischen Lancaster University ausgeliehen werden, die den Nachlass des streitbaren Theoretikers von Architektur und Denkmalpflege bewahrt.

Dabei war Ruskin mitnichten nur Theoretiker. Er hat zahlreiche Aquarelle in Venedig und in ganz Italien geschaffen, dazu in den Schweizer und französischen Hochalpen, für die er sich schon als Junge begeisterte. In seinen geografischen Vorlieben zeigt sich die Nähe zum bewunderten J.M.W. Turner, und vollends die Aquarelle selbst lassen erkennen, warum Ruskin Turner für den größten Maler unter den Zeitgenossen hielt.

Tatsächlich schrieb Ruskin zunächst kunsthistorische Standardwerke, ehe er sich der Architekturhistorie zuwandte. Ab 1869 lehrte er selbst in Oxford als erster Professor für Schöne Künste auf dem gerade eingerichteten Lehrstuhl.

Für den gleichermaßen in Naturwissenschaften bewanderten Ruskin war Venedig das Gegenbild zur rücksichtslosen Modernisierung seiner englischen Heimat in der Viktorianischen Ära. Ruskin war Zeuge der Neo-Gotik, mit der sich Hotels und Bahnhöfe ebenso verkleideten wie Justizgebäude oder das britische Parlament. Ihr gegenüber stellte er die venezianische Gotik als authentisch heraus, ob am Ca’ Foscari oder am Ca’ Dario, zwei Palästen, die er im Zustand völliger Vernachlässigung zeichnete.

Die Stadt war sich selbst überlassen

Hauptwerk der eigentümlichen, von byzantinischen und orientalischen Einflüssen geprägten venezianischen Gotik ist natürlich der Dogenpalast selbst, dessen Loggia, über die die Touristen achtlos ihren Rundweg in die Innenräume beginnen, er in einfühlsamer Perspektive auf die Rückseite des Markusdoms gezeichnet hat. Passenderweise bewahrt das hauseigene Museo dell’Opera im Erdgeschoss des Palazzo Ducale diverse Säulenschäfte und Kapitelle des 14. und 15. Jahrhunderts, die nun den Auftakt der Ruskin-Ausstellung bilden. Den komplizierten, fast möchte man sagen sinnfreien Aufbau der Südfassade des Markusdoms, die nur vom Innenhof des Dogenpalasts aus zu besichtigen ist, hat Ruskin in detailgetreuen Blättern festgehalten.

Die Konkurrenz zur gleichzeitigen und rapide sich verbessernden Fotografie ist offensichtlich. Sie wird in der Ausstellung in schönen Daguerrotypien genau aus der Zeit von Ruskins Venedig-Aufenthalt um 1850 thematisiert. Venedig war sich selbst überlassen und noch kaum Gegenstand jener „Restaurierungen“, gegen die Ruskin Sturm lief, weil sie ein idealisiertes Vergangenheitsbild setzen wollten – an die Stelle des authentischen, seine eigene Geschichtlichkeit spiegelnden Zeugnisses, wie es Ruskin forderte.

Raffiniert. Fenster des Ca’ Foscari, 1845.
Raffiniert. Fenster des Ca’ Foscari, 1845.

© Victoria & Albert Museum, London

Die Kapitelle des Dogenpalastes sind nicht „vergangen“, wie Ruskin es für die allernächste Zukunft seiner eigenen Zeit befürchten musste, sie wurden vielmehr bewahrt und restauriert. Der Zauber freilich, den die einzigartige Vermischung von Orient und Okzident in Architektur und Ausstattung insbesondere des Markusdomes auf Ruskin noch ausübte, ist unter dem Druck der Profanierung Venedigs tatsächlich für immer verflogen.

Ruskins Werk erinnert daran, dass das heutige Venedig, aller denkmalpflegerischen Sorgfalt zum Trotz, nicht das authentische ist, wie der streitbare Engländer es noch kannte, sondern nur mehr dessen massentaugliches Abziehbild.

Venedig, Dogenpalast, bis 10. Juni. Katalog bei Marsilio (Italienisch) 35 €. Mehr: www.palazzoducale.visitmuve.it/ruskin

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