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Von Moskau bis Berlin. Aydar Gaynullin und Elena Lutz sind dauernd unterwegs. Deshalb schätzen sie die Ruhe am Stadtrand.

© Kai-Uwe Heinrich TSP

Bajan in Berlin: Wie der Tango nach Staaken kam

Das atmende Instrument: Aydar Gaynullin und Elena Lutz spielen Bajan, das russische Akkordeon. Ein Hausbesuch bei zwei abstrakten Lautmalern.

Hier ist das also, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Noch ein paar hundert Meter auf der saftig grünen Wiese und Berlin ist vorbei. Dafür hört der Himmel gar nicht mehr auf, wenn man bei Aydar Gaynullin und Elena Lutz in Staaken auf der Terrasse steht. So was. Ein in Moskau geborener Tartare und eine in Bishkek aufgewachsene Kirgisin, die als Musiker in vielen Ländern der Welt auftreten, lassen sich ausgerechnet am Rand von Nirgendwo nieder.

„Wir haben uns in den Sonnenuntergang verliebt“, sagt sie. „Und in die Rehe, die morgens und abends kommen“, sagt er. Und dass ihr Leben, das viel im notorisch Stau-verseuchten Moskau spielt, so stressig sei, dass sie nicht noch im Stress wohnen wollen. Die beiden sind knapp über 30 und leben seit zwei Jahren hier im eigenen Häuschen. Mit ihrer kleinen Tochter, mit ihrer Schwiegermutter auf blitzblanken beigen Fliesen. Im Flur stehen schon die gepackten Koffer, in ein paar Stunden fliegt Aydar Gaynullin wieder für ein paar Auftritte nach Moskau.

Im Kammermusiksaal steht am Sonnabend nun auch in Berlin erstmals ein großes gemeinsames Konzert an. Gaynullin und Lutz haben weitere Solisten an Cello, Gitarre, Horn, Perkussion und Bansuri, einer indischen Querflöte eingeladen. Begleitet werden sie vom Moskauer Kammerorchester. Der Abend heißt „Tango de Amor“, kombiniert Kompositionen von Astor Piazzolla mit denen von Aydar Gaynullin – und wirft im Kopf erst mal abgenudelte Tango-, Folklore- oder Weltmusik-Assoziationen an.

Gaynullin und Lutz lächeln über den von Schwiegermuttern reich beschickten Frühstückstisch, als sie das hören. Den Verdacht der Piefigkeit kennen sie schon. Der sei gerade in Deutschland, wo das Akkordeon eine reine Volksmusikinstrument-Tradition habe, weit verbreitet, sagt Gaynullin und erklärt erst mal den Unterschied zwischen Tangomusik zum Tanzen und Konzerttango, wie ihn seine stetige Inspirationsquelle – der Bandoneonist Astor Piazzolla – komponiert. „Es ist eine komplexe klassische Komposition, mit mehr Farben, synkopierteren Rhythmen – für die große Konzertbühne gemacht.“

Der schmale Mann angelt sein 16 Kilo schweres Instrument vom Ledersofa, die schmale Frau tut es ihm gleich, und schon spielen sie „Libertango“, ein populäres Piazzolla-Stück von 1974 an. Und plötzlich weitet sich die nur mit Puschen an den Füßen zu betretende gute Stube zur Bühne. Was Gaynullin und Lutz da mit mimischem wie körperlichem Einsatz inszenierten, ist ein musikalisches Mini-Dramolett, ein lautmalerischer Dialog der Blasebälger, so leidenschaftlich wie abstrakt.

„Das Bajan ist das einzige Instrument, das atmet“, sagt Aydar Gaynullin. Das fasziniere ihn daran. Das gilt natürlich auch für die ebenfalls mit einem Balg ausgestatteten Handzuginstrumente Akkordeon oder Bandoneon. Aber in Russland und Osteuropa ist seit Ende des 19. Jahrhunderts das Bajan verbreitet, das sich inzwischen auch in China einiger Beliebtheit erfreut. Das Bajan ist ein Knopfakkordeon, im Gegensatz zum in Deutschland gebräuchlichen Tastenakkordeon. Auf dem Bajan kann man rechts drei Oktaven greifen und fünf Stimmen gleichzeitig spielen.

Auch auf einer Feier von Martina Gedecks Eltern haben sie schon gespielt

Von Moskau bis Berlin. Aydar Gaynullin und Elena Lutz sind dauernd unterwegs. Deshalb schätzen sie die Ruhe am Stadtrand.
Von Moskau bis Berlin. Aydar Gaynullin und Elena Lutz sind dauernd unterwegs. Deshalb schätzen sie die Ruhe am Stadtrand.

© Kai-Uwe Heinrich TSP

Gaynullin und Lutz sind damit aufgewachsen und haben mit acht, neun Jahren angefangen, Bajan zu spielen. Er hat die Gnessin-Musikakademie in Moskau absolviert, an der Hanns-Eisler-Hochschule in Berlin noch ein Konzertexamen gemacht, 17 internationale Akkordeon- Wettbewerbe gewonnen und in Russland mit Größen wie Anna Netrebko oder dem Cellisten Rostropowitsch gespielt. Sie ist mit ihrer deutschstämmigen Familie 1999 als Spätaussiedlerin nach Lichtenberg gezogen und hat nach ihrem Musikstudium in Bishkek noch eins an der Hanns-Eisler-Hochschule angehängt.

Ob sie sich beim Bajanspielen kennengelernt haben? Nein, das sei 2003 bei einer Akkordeon-Meisterklasse in Wien passiert, erzählen sie unter Gelächter. Aydar Gaynullin war da schon kräftig dabei, seinen Ruhm als Bajan-Jungstar zu mehren. Als in der ganzen Welt mit Konzerttango und eigenen Kompositionen auftretender Solist hat er nie vor gehabt, nach Deutschland geschweige denn nach Berlin, Ortsteil Staaken, zu kommen. 2005 ist er dann doch hergezogen. „Wegen Elena“, sagt er und schaut ein bisschen verlegen zu ihr hinüber.

Überhaupt macht Gaynullin nicht den Eindruck eines von Ehrgeiz getriebenen Künstlers, der hammerhart seine Karriereschritte plant. Es dauert dann auch nicht lange, bis er das hier sagt: „Ich spiele die Musik für meine Seele, nicht um damit bestimmte Ziele zu erreichen.“

Diese Hingabe hat offensichtlich auch die Schauspielerin Martina Gedeck gespürt, die den auch als Filmmusikkomponisten arbeitenden Instrumentalisten vor ein paar Jahren bei einer Kulturpreisverleihung in Berlin kennengelernt hat. Seitdem seien sie Freunde, sagt er. Er habe ihr zuliebe sogar auf dem Geburtstag ihrer Eltern gespielt. Und nun haben sie auch ein gemeinsames literarisch-musikalisches Projekt. Uraufgeführt wurde es in Suhl, weitere Termine – auch in Berlin – sind für dieses Jahr in Planung. Gedeck liest aus Marlen Haushofers Roman „Die Wand“, der kürzlich auch mit ihr in der Hauptrolle verfilmt wurde. Und Aydar Gaynullin begleitet das dystopische Bergeinsamkeitsdrama mit düsteren Naturklängen, die viele Höhenmeter vom Schmelz melancholischer Tangomelodien entfernt sind.

„Soll ich mal anspielen?“, fragt er. Frau, Schwiegermutter, Fotograf und Reporterin nicken. Er drückt die Knöpfe, er zieht und presst das wimmernde und ächzende Bajan. Im Wohnzimmer wird es ein paar Grad kälter und Wölfe scheinen draußen über die Wiese zu ziehen.

„Tango de Amor“ im Kammermusiksaal der Philharmonie, Sonnabend 8. Juni, 18 Uhr

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