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Am Hafen gestrandet. Ein Migrant säubert vor seinem Zelt am Flüchtlingslager Souda auf Chios ein Brett, auf dem er schlafen will.

© Angelos Tzortzinis/dpa

Festival auf der Insel Chios: Baum der Hoffnung

Wie die griechische Insel Chios mit einem Klassik-Musikfestival auf Geflüchtete zugeht, die dort festsitzen – und auch dem Tourismus hilft.

„Dark Tourism“, das scheint eine Tendenz in diesem Sommer zu sein. Egal ob ein Besuch in Auschwitz, ein Abstecher zu den griechischen Bränden, es gibt tatsächlich Menschen, die an Stätten des Grauens Selfies machen wollen.

Auf Chios ist es eher umgekehrt. Dort bleiben die Touristen aus. „Wer will da Urlaub machen, wenn an einem einsamen Strand plötzlich ein Schlauchboot aufpoppt, dem junge Männer aus Afghanistan oder Afrika entsteigen“, klagt ein Hotelbesitzer im Badeort Karfas. Die Buchungen sind seit 2015 stark zurückgegangen. Die Bevölkerung leidet unter dem Ausbleiben der Besucher. Die Zeiten sind vorbei, als NGOs ganze Hotels anmieteten, um dort Flüchtlinge hineinzustopfen. Was dem Wort „Asyltourismus“ einen ziemlich morbiden Klang gibt.

Chios gilt auch unter Griechen als Geheimtipp. „Wir haben eine großartige Natur, von der kaum einer etwas weiß. Und wir haben der Regierung in Athen schon alle möglichen Vorschläge gemacht, wie man die Probleme in den Griff kriegen könnte“, sagt Manolis Vournous, der Bürgermeister von Chios, Herr über 53 000 Inselbewohner. „Doch in Athen weiß man alles besser.“

Die Resignation wächst

Olympoi, ein zauberhaftes Steindorf in den Bergen mit Bögen, Gassen und einem kleinen Marktplatz. Der Vollmond scheint auf eine Bühne, ein natürliches Amphitheater über den Hügeln. Es gibt ein Konzert, Musiker aus Athen und Berlin haben ein Stück einstudiert, das hier in den Bergen, uraufgeführt wird, „die Mastix-Oper“. Es geht darum, etwas gegen das Auseinanderfallen der Insel in Parallelwelten zu unternehmen. Einheimische, Touristen und Flüchtlinge, deren Leben sich normalerweise wenig berühren, sollen zusammenfinden, und sei es nur einen Sommerabend lang.

Die Resignation wächst. „Anfangs haben wir den Flüchtlingen noch Essen gespendet und Kleidung“, erzählt der Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens. „Aber sie glaubten, wir wollten sie mit Schweinefleisch vergiften. Dann warfen sie die Kleidung weg. Und da hatten wir keine Lust mehr, ihnen weiter zu helfen.“ Eine Stimmung, gegen die Olga Holdorff, die in Berlin wohnt und deren Mutter aus Chios stammt, etwas unternehmen möchte. Die Violinistin, die auch regemäßig bei Projekten an der Berliner Staatsoper engagiert ist, sprach 2016 den Komponisten Eleftherios Veniadis an, der aus Chios stammt und ebenfalls in Berlin lebt.

Ein Lager wie aus einem Horrorfilm

Gemeinsam gründeten sie das Chios Music Festival, in Zusammenarbeit mit der Allianz Kulturstiftung und unterstützt von der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes. Das Festival, das 2017 zum ersten Mal stattfand, bespielt die Insel an den verschiedensten Orten, in völlig isolierten Bergdörfern ebenso wie in Museen und den Arenen von Chios-Stadt.

Allerdings: Ohne die Flüchtlinge und das große Flüchtlingslager, den so genannten Hotspot, würde es dieses Festival niemals geben. Camp Vial ist ein rattenverseuchtes Lager im Osten von Chios, nicht weit von der türkischen Küste. Nachts kommen Boote mit Flüchtlingen über die sieben Kilometer breite Meerenge, Europas Außengrenze. Sie werden sofort eingesammelt und ins Camp gesteckt. Ein Umschlagplatz für mehr als 2000 Menschen, hoffnungslos eng, stickig, gedacht war es einmal für die Hälfte. Camp Vial, benannt nach einer ehemaligen Aluminiumfabrik, ist eine bunkerartige, abgerockte Halle aus Beton, wie in einem Horrorfilm.

Die Geflüchteten sitzen fest

„Ich stecke seit 16 Monaten fest, nichts passiert, helfen Sie mir“, ruft ein Mann aus Afghanistan. Er hält ein Formular in der Hand, das ihm offenbar nicht viel nutzt. Der Info-Point, an dem die Insassen Schlange stehen, ist nicht besetzt, der Tag vergeht mit Warten. Niemand darf ins Lager hinein, es gibt strenge Kontrollen. Also schleichen wir uns heimlich an, einen Abhang hinab, möglichst unbemerkt von den blauen Polizeiautos, die hier patrouillieren. Es riecht faulig und ungesund. Niemand möchte hier mehr als ein paar Stunden verbringen.

Camp Vial, einer der fünf Hotspots in Griechenland, ein Auffanglager, an dem die Flüchtlinge eigentlich nur kurz registriert werden sollten, bevor es weitergeht nach Deutschland oder Schweden. In Wirklichkeit sitzen sie fest. Das Camp ist eine Migrationsmaschine, die zur Falle geworden ist. Keiner weiß, wann es weitergeht und was ihn erwartet.

Rechts und links daneben: Container, die im griechischen Sommer eine feuchte Hitze von bis zu 50 Grad erreichen. Hinter den blauen UNHCR-Säcken, die als Raumteiler dienen und als Sonnenschutz, stehen Zelte für 40 Personen.

Vom Festival haben die Campbewohner noch nie gehört

Die Männer erzählen von ihren Gesundheitsproblemen, dass es viel zu wenig Ärzte gibt im Camp und dass die meisten Ausschlag haben, wegen des Wassers. Einer hat einen schwarzen Fuß, ein Vater greift seinem sechsjährigen Kind in den Mund und präsentiert einen gespaltenen Zahn und dunkelbraune Karies am ganzen Oberkiefer. Plötzlich kommt einer und flüstert: „Schnell, mach das Mikrofon aus, sonst kommen die Polizisten und löschen alles.“

Von Kultur, vom Chios Music Festival, haben die Bewohner der Containerstadt noch nie etwas gehört. Camp Vial ist vielleicht die einzige Stelle auf der ganzen Insel, in denen die blauen Plakate nicht hängen, die Vögel zeigen, welche auf Stromleitungen sitzen – die Festivalplakate. Die Menschen haben hier andere Sorgen. Und doch spielen auch manche Flüchtlinge eine Rolle. In Olympoi gibt es einen kleinen runden Platz, auf dem man im Kreis von einer Taverne zur anderen geht. Auf einem der blauen Stühle sitzt Olga Holdorff, die Violonistin, die auch schon in Palästina für die Said-Barenboim-Akademie unterrichtet hat. „Wir machen ganz verschiedene Formen von Musik, Musiktheater mit Schauspielern und Dialogen, aber auch ein Jazzkonzert, ein Klassik- und ein Kinderkonzert.“ Die Kinder reagieren begeistert.

Chor mit geflüchteten Mädchen

„Mastix ist ein Baum, der nur im Süden von Chios wächst, und der Exportschlager und die Identität der Insel ist“, erklärt der Komponist Veniadis. „Mit seinem Harz wurden schon die alten Ägypter einbalsamiert.“ Der Geschmack dieser Pistazienart wird überall auf Chios zelebriert, von der Konfitüre bis zur Pasta.

Höhepunkt der Oper ist ein Chor junger Frauen, zu dem auch geflüchtete Mädchen gehören und die einfach umwerfend sind. „Bei uns in Teheran darf keine Frau singen, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit“, sagt die 17-jährige Anahita, die in ihrem weißen Kleid sehr zerbrechlich wirkt, aber ihren Auftritt genießt. Ihre Freundin aus Afghanistan, Arizou, hat eine robuste Präsenz, sie trägt als einzige ein weißes Kopftuch, dazu aufgeschlitzte enge weiße Hosen.

Die beiden Mädchen überstehen die Zeit als „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" gemeinsam. Sie haben Camp Vial schon vor Wochen verlassen, leben jetzt in einem Privathaus, das eine griechische NGO angemietet hat. Nach Deutschland will Arizou nicht. Sie sieht bessere Chancen, in Griechenland um Asyl zu bitten.

Werner Bloch

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