zum Hauptinhalt

Der feine Unterschied: Baum oder Borke

Thomas Lackmann untersucht die Korkschichten des Bewusstseins.

Zerreißproben des Individuums zwischen Innenleben und Außendarstellung haben in der Spätphase der Moderne auch Heinz Erhardt inspiriert. Der unterschätzte Lyriker scheute sich nicht, jenes Konfliktmaterial poetisch zu mikroskopieren, das durch interne Spannungen divergierender Strukturen entsteht. Landläufig nennt man solche Verflechtung das Problem „zwischen Baum und Borke“. Erhardts Parabel „Die Made“ zeigt eine Wurmfamilie, die ihren Ernährer durch riskanten Außeneinsatz verloren hat, weshalb Mutter Made – ein Hinweis auf die Entpolitisierung der privatisierenden Nachkriegsdeutschen – ihren Spross auf Häuslichkeit verpflichtet. Das Idyll „Hinter eines Baumes Rinde / lebt die Made mit dem Kinde“ ist überschattet durch Trauma und Zukunftspanik. Existenz zwischen Baum und Borke heißt: Psychostress.

Eine Stress-Lösung zugunsten der Borke konnte kurzzeitig die Postmoderne mit ihrem Fassadenkult konstruieren. Was den Wesenskern, etwa die Welt der Made, ausmacht, interessiert nun nicht mehr. Benutzeroberfläche = Baum! Wir wissen derweil, dass es viele Bildschirmschoner und Hunderte von Borken gibt, deren Varianten faszinieren. Borke, diese Korkschicht toter Zellen auf der Rinde, erscheint als Welt für sich. Die Borke bestimmt das Bewusstsein! Mediziner verwenden das Wort übrigens für Kruste, da Mensch und Baum einander ähneln. Selbst ein Nasensekret (Schnodder, Popel) wird Borke genannt, was zur Klärung wenig beiträgt.

Denn die Spannung zwischen Ober- und Unterfläche besteht. Zwei Zeitgeisttrends laufen hier gegeneinander. Der eine befördert die Differenzierung: Unter der Borke liegt Bast, dann das Kambium, das Holz, das Mark; unter der Benutzeroberfläche die Festplatte etc., unter der Hirnschale Großhirnrinde etc. Jede Schicht kann als Welt erforscht, gegen andere Ge-Schichten ausgespielt werden. Der andere Trend drängt zum Ganzen: Es lebe der Baum, er ist mehr als die Summe seiner Schichten! Diesen Gegensatz müssen kommende Geschlechter versöhnen. Noch finden nämlich – wo die EU, die Große Koalition oder ein Liebespaar sich zerfleischen – zwischen Baum und Borke Dramen statt. Die demografischen Folgen erkennt der Dichter: „Hinter eines Baumes Rinde / ruft die Made nach dem Kinde.“ Unserer Generation bleibt nur diese Poesie.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false