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Berliner Philharmoniker: Start mit Kick

Saisoneröffnung bei den Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle - mit Variationen von Benjamin Britten.

Alles steht an diesem Abend mit den Berliner Philharmonikern unter dem schönen Stern der Saisoneröffnung. Sir Simon trägt das Haar jetzt kürzer, die Musikerinnen und Musiker scheinen nach der Sommerpause erholt und dienstbereit, und das Publikum besteht zu einem Drittel aus Angehörigen der Deutschen Bank, die dem Orchester soeben versprochen hat, an die bislang 25 Jahre Förderung noch weiter fünf Jahre anzufügen. Das allein ist schon einmal sehr schön.

Vor allem aber gehört zu diesem Abend, der das erste öffentliche Auftreten der Philharmoniker nach den rädernden Wochen der letzten Saison mit ihrer erst angesetzten, dann vertagten und schließlich insgeheim stattgehabten Chefdirigentenwahl markiert, ein produktiver Umgang mit sich selbst: Dieses Konzert tut gut, und es tut Gutes. Auf dem Programm stehen zunächst Benjamin Brittens „Variations on a Theme of Frank Bridge“ für Streichorchester, eigentlich eine Art musikalische Miszelle, gedacht vielleicht für Abende mit langer Anlaufbahn, bei denen die Aufmerksamkeit im Saal erst mühselig eingesammelt werden muss, bevor es an die echte Symphonik geht.

An diesem Abend wird daraus eine Musik, mit der sich von Anfang an zeigen lässt, worin die einzigartigen Vorzüge Sir Simons und dieses Orchesters liegen und warum es gut und richtig ist, den Gehörsinn zu pflegen. Die Streichertöne schweben ein und entschwinden in herrlichen Bögen. Rattle lauscht, wacht, schiebt und probiert, er erlaubt kein Kippeln ins Zufällige. Die Philharmoniker haben Kraft, einander zuzuhören, und das allein zwingt auch den ausverkauften Saal zum Zuhören: Wie die langsamen Passagen gleich anfangs sich ausbreiten, bis sie zäh tönen und lauernd. Wie die Variation „Romance“ an dritter Stelle so duftig und niedlich klingt, dass es des Guten längst zu viel ist. Wie kunstvoll die Musikerinnen und Musiker Schlampigkeit fingieren, in der „Aria italiana“ an vierter Stelle mit ihren Schrabbelstellen und angedrehten Gefühlen, wie finster die ostinaten Tritte der Kontrabässe in der achten Variation des „Funeral March“ tönen, wie toll es prasselt in der siebten. Wer jetzt nur zufällig im Saisoneröffnungskonzert sitzt und noch immer nicht wissen sollte, was es mit der klassischen Musik auf sich hat und warum gerade dieses Orchester weltberühmt ist, für seine Virtuosität ebenso wie für seine musikalische Mehrsprachigkeit, dem wird nach der Pause mit Schostakowitschs Vierter geholfen.

Ein Riesengebilde ist diese einstündige Symphonie von 1935/36, panisch beginnend, sofort in barsche Zirkusmusik übergehend. Noch im ersten Satz mit einem Fugato, das klingt, als ob man das Ohr in einen Bienenstock halte. Unversehens in Witz abdriftend, dann wieder sich selbst überbietend, ohrenabtötend laut. Nach all dem Getöse allmählich zurückweichend, bis nur noch ein dunkles, scheuerndes Atmen zu hören ist, in das hinein die Celesta (Majella Stockhausen) mit einem feinen Pling die letzten wichtigen Fragen stellt: Das? Ist alles? Ja, das ist alles. Nicht mehr und nicht weniger.

Variationsmeister. Benjamin Britten im Jahr 1968.

© London Records/Wikipedia

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