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Berliner Theatertreffen: Die Miesen und die Fiesen

Nach dem Theatergipfel: Was hat die Krise auf der Bühne verloren? Und wo bleiben die Menschen? Wenn Theater keine Menschenkunst mehr ist, sondern ein Kaninchenstall, hat es sich selbst aufgegeben.

Eine Papstwahl, ein Grand Prix d’Eurovision ist nichts gegen die Auswahlriten und -qualen des Berliner Theatertreffens. Sieben Kritiker reisen und sichten, reden und beratschlagen, reisen und sichten weiter und rufen, wenn das allgemeine Angebot flau ist und gar nichts mehr hilft, einen Trend aus: Die Bühnen also stellen sich der großen Krise, sie zeigen ihr Gesicht, die Fratze. Das Theater ist wieder politisch ...?

Mit ihrer Agenda 2010 ist die Jury auf dem kleinsten gemeinsten Nenner gelandet. Hier ein schockgefrorener Horváth mit Depressionsopfern, dort die volle Proll-Dröhnung der „Schmutzigen, Hässlichen und Gemeinen“. Hier die miesen Alltagsmonster, die zwischen „Liebe und Geld“ nicht mehr unterscheiden können, dort die Lemuren aus „Riesenbutzbach“. Hier die aufgezogenen amerikanischen Androiden aus „Life and Times – Episode 1“, dort die wortschwalligen „Kontrakte des Kaufmanns“ der Elfriede Jelinek. Als ob die Theater in Köln und Wien, Hamburg und Berlin bloß noch die fiese Krise auf dem Spielplan hätten!

In diesen zurückliegenden zwei Wochen des Theatertreffens, in diesem kalten Mai drängte sich ein Verdacht auf, der am Ende zur Gewissheit wurde. Die Jury hat sich, ästhetisch und thematisch, ihren eigenen Saisonspielplan zusammengenagelt. Ausgewählt wurde, was ins Konzept passt. Sonst hätte man „Trust“ und „Die dritte Generation“ einladen müssen, um nur zwei Gegenbeispiele von der Berliner Schaubühne zu nennen: die federleichte, swingende Performance über Menschen und Moneten und die erschütternd komische deutsch- israelisch-palästinensische Geschichtsstunde.

Aber es bringt nichts, die entmutigende Auswahl im Einzelnen zu zerpflücken. Wichtig und grundsätzlich ist die Frage, welches Bild vom Menschen da behauptet wird – und was die Wirtschafts- und Finanzkrise auf der Bühne verloren hat.

Als Alain Platel vor Jahren in Belgien sein „Allemaal Indiaan“ inszenierte, waren da – ähnlich wie jetzt in den Kölner „Schmutzigen ...“ – Unterschichtentypen in ihren Häusern zu sehen. Platel stellte einen ganzen Straßenzug auf die Bühne, und abgesehen von seiner überragenden Fähigkeit, Normalität zu zeigen, abgesehen auch von seinem hohen musikalischen Empfinden: Es waren Menschen zu sehen. Individuen. Keine Abziehbilder. Menschen, die Mist bauen, die eklig sind, die einander wehtun und auf die Nerven gehen, die sich billig ablenken, sei’s drum. Aber Menschen. Keine dramaturgischen Versuchskaninchen. Selbst bei einem subtilen Meister wie Christoph Marthaler nervt die ewige Verblödungs- und Verödungsmasche. Diese Figuren, die bemüht schlaff und maulfaul und lächerlich gekleidet ihre und unsere Zeit totschlagen. Was für Geschlagene und Gepresste (von wem?) sollen die „Butzbacher“ sein?

Es ist die wahre Krise, wenn die Theater ihr Geld, ihre Mühe, ihre Kunst, all ihre Mittel aufwenden, um bloß noch Typen vorzuführen und in letzter Konsequenz zu denunzieren. Schlimmer noch: Der Zuschauer wird in eine voyeuristische Falle gezwungen, mit der ungeheuerlichen Unterstellung, dass sich Theatergänger nicht interessieren für soziales Elend – dass diejenigen, die teure Tickets kaufen können, aufgerüttelt und konfrontiert werden müssen mit prekären gesellschaftlichen Verhältnissen.

Wenn Theater keine Menschenkunst mehr ist, sondern ein Kaninchenstall, hat es sich selbst aufgegeben. Regisseure nehmen Schauspieler, Autoren und Zuschauer in Geiselhaft, wenn sie sich wie Performancekünstler gerieren und Installationen an die Stelle von Inszenierungen setzen. Performancekünstler wie Marina Abramovic stellen sich mit Körper und Seele aus, und sie stehen mit und für sich ein. Ein Regisseur, der dieses Prinzip auf ein Ensemble überträgt, handelt nicht radikal, sondern feige und verlogen.

Wem hilft die Zurschaustellung schlecht gespielten Elends? Sogenannte kritische Stücke, wie ein Franz Xaver Kroetz sie einst schrieb, waren immer auch Fiktion. Sie erzählten eine Geschichte mit Menschen, die einen Namen haben und eine Vorgeschichte. Spielen ist menschlich, jetzt aber wollen viele Aufführungen schlicht die Wirklichkeit imitieren, und da ist nichts schrecklich, nichts billig genug. Wie stark ist das Vertrauen in einen Text, in die Sprechkunst eines Ensembles, wenn Stephan Kimmig bei „Liebe und Geld“ von Dennis Kelly die Bühne weit in den Zuschauerraum hineinragen lässt und den Schauspielern dann auch noch Mikroports verpasst! Spielen ist auch ein Schutz, eine Befreiung. Ein uraltes Ritual, das um Menschenwürde ringt. In Roland Schimmelpfennigs Inszenierung seines „Goldenen Drachen“ vom Wiener Burgtheater ist die Lust zu spüren, eine horrende Geschichte mit leichter Hand zu erzählen. Überhaupt zu erzählen: vom Tod eines chinesischen Kochs in einem Asia-Imbiss irgendwo in unseren Städten.

Der Solitär dieses Theatertreffens aber war „Kleiner Mann – was nun“. Es rührt an ein Wunder, wie Luk Perceval und das formidable Ensemble der Münchner Kammerspiele Hans Falladas Roman von anno 1932 in epischer Breite und szenischer Kürze als Antidotum zur Theaterkrise offerieren. Das Wirtschaftsopfer, der Mensch, hat ein Herz, er hat Witz und einen seltsamen Optimismus, trotz allem und deswegen. Der Arbeitslose einmal nicht als der Seelenlose. Es liegt eine Magie über diesem langen Abend, der sich freimacht von Moden und Zwängen und jeder Betriebswurstigkeit. Was für ein Geschenk für den scheidenden Kammerspiel-Intendanten Frank Baumbauer! Ein Triumph: Der „Kleine Mann“ Paul Herwig erhält den diesjährigen Alfred- Kerr-Darstellerpreis (siehe unten), und Herwig und seine Partnerin Annette Paulmann wurden überdies mit dem 3sat- Theatertreffen-Preis ausgezeichnet.

Perceval hat mit Fallada Theatertreffen- Geschichte geschrieben. Wie vor zehn Jahren, als er mit seinem Shakespeare-Marathon „Schlachten!“ nachhaltig den Zerfall von Königreichen demonstrierte. Nun zeigt er mit seiner unbändigen Spielkraft, wie eine ebenso fragile bürgerliche Welt auseinanderbricht, wie der kleine Fallada-Angestellte um die Illusion seiner eigenen vier Wände, seines Familienglücks kämpft.

Und dann wieder business as usual, großmäulig und kleingeistig; die Mehrzahl der Theatermacher will lieber drangsalieren, dokumentieren, diskutieren, mit den elektronischen Medien kämpfen. Sie imitieren Wirklichkeit oder das, was sie dafür halten. Man kann zu ihrem Verständnis annehmen, dass sie das aus Verzweiflung tun, weil sie glauben, mit spielerischen Mitteln die Welt nicht mehr zu erreichen. Weil sie fürchten, sonst nicht wahrgenommen zu werden. Oder weil ihr Talent nicht mehr hergibt.

Nicolas Stemann zerfleddert in seiner Jelinek-Séance aus Hamburg und Köln ein Textgebilde, das sich mit Autopilot weiterschreibt in eine erschütternde Hilflosigkeit und Bedeutungslosigkeit hinein. Diese „Kontrakte des Kaufmanns“, ein nach unten offener Countdown von Vertrauensverlust und Geldvernichtung, haben den Vorzug, dass hier die antimaterielle Abstraktionsgewalt der Märkte spürbar wird, wie das Schicksalsrauschen in einem antiken Chor. Stemann selbst steht mittendrin in der apokalyptischen Banker-Party, dirigiert das Chaos, das nur einen Schluss zulässt: Die Verhältnisse scheinen endgültig über die Kunst und ihre gesellschaftskritischen Mittel gesiegt zu haben. Jelinek und Stemann feiern die Niederlage ausgiebig. Da geht die Welt lässig zugrunde, immerhin.

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