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Landmarke. Werner Marchs Reichssportfeld ist ganz auf den 77 Meter hohen Turm ausgerichtet. Auf der Glocke darin steht: „Ich rufe die Jugend der Welt!“

© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Türme (5): Glockenturm am Olympiastadion: Die Jugend der Welt liebt Curry

Die Propagandastele: Vom Glockenturm am Olympiastadion blickt man in grüne Fernen und historische Abgründe.

Er hätte das Zeug dazu, alle touristischen Leuchttürme Berlins zu überragen. Von seinen 77 Metern Höhe blickt man nicht nur über die gesamte Stadt, die von hier oben unfassbar grün erscheint, zwischen dem Funkturm und den gerade noch zu erkennenden Müggelbergen. Vom Glockenturm am Olympiastadion kann man in die Ferne schweifen, hinweg über den Grunewald bis ins Havelland, ein liebliches Wechselspiel aus Grün und Blau – und man kann in eine historische Tiefe blicken, die frösteln macht, inmitten des Sommersonnenscheins.

Das gesamte Reichssportfeld, Werner Marchs Olympia-Komplex von 1936, auf dem Grund der ehemaligen Rennbahn Grunewald und des Deutschen Stadions errichtet, ist auf die schmucklose Kalksteinstele hin ausgerichtet. In ihrer Glockenstube hängt ein gewaltiges Instrument, das nach seinem Guss in Bochum in einem Triumphmarsch nach Berlin geleitet wurde. „Ich rufe die Jugend der Welt!“, ist auf der Olympiaglocke zu lesen. Bereits 1916 hätten im Deutschen Stadion Olympische Spiele stattfinden sollen, doch statt sich im sportlichen Wettkampf zu messen, versank Europa im Ersten Weltkrieg, der millionenfachen Tod brachte – vor allem der Jugend.

Der Mythos einer zum Opfertod bereiten Jugend

Das Stahlskelett des Glockenturms ankert nicht nur statisch in dem trutzigen Bau, der das gigantische Maifeld begrenzt. Im ersten Geschoss der Halle liegt das ideologische Fundament des Turms, der Spiele von Berlin und dessen, was ab 1939 von der NS-Propaganda als „Sturmlauf Deutschlands“, als „Siegeslauf für ein besseres Europa“ beschrieben wurde. In der Langemarckhalle wird der Mythos einer zum Opfertod fürs Vaterland bereiten Jugend in Stein gemeißelt. Dabei nimmt man den sinnlosen Tod schlecht ausgebildeter Freiwilligenverbände im Flandern des Ersten Weltkriegs als Vorbild für Pflichterfüllung für Ruhm und Reich. Nicht nur Nachwuchssportler sollten darauf eingeschworen werden. In unmittelbarer Nähe zum Reichssportfeld war das Universitätsviertel der Welthauptstadt Germania geplant. Die Wehrtechnische Fakultät entsteht als Rohbau, ihre Ruine wird nach dem Krieg im Trümmerschutt überdeckt. Heute ragt an dieser Stelle der 120 Meter hohe Teufelsberg empor, mit den zerfledderten Ohren der aufgegebenen Lauschanlagen.

„Der völkische Staat hat seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper“, hatte Adolf Hitler befunden. Diese Körper jedoch waren nicht Träger von Individuen, sie waren opferbereite Glieder des Reichs. Die Einheit von Jugend, Stärke und Opfertod wird in der Langemarckhalle beschworen und besungen: „Ihr heiligen grauen Reihen / geht unter Wolken des Ruhms / und tragt die blutigen Weihen / des heimlichen Königtums!“, dichtete der Kriegsfreiwillige Walter Flex 1915. Auch Hölderlin wird an der Flanke der Halle als ein Apostel des Opfertods zitiert. Der Dichter, hätte er im Dritten Reich leben müssen, wäre als unheilbar krankes Gewebe im Volkskörper wohl der Euthanasie zum Opfer gefallen.

Im Erdgeschoss des Turms ist eine Ausstellung

Wie der Sport sich vom „frisch, fromm, froh und frei“ des Turnvaters Jahn zum Wehrsport der erbitterten Gegner Weimars entwickelte, zeigt eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums im Erdgeschoss des Glockenturms. Man nehme nur das Beispiel von Carl Diem, einem Hauptinitiator von Olympia 1936. „Sport ist der Büchsenspanner des Soldaten, in ihm wächst neue Frische und neue Lust zu“, ruft der Sportfunktionär pünktlich zu Kriegsbeginn 1939 aus. In seinen letzten Tagen schwört er im Olympiastadion Hitlerjungen zum Kampf gegen russische Panzer ein, dabei die alten Griechen zitierend: „Schön ist der Tod, wenn der edle Krieger für das Vaterland ficht, für das Vaterland stirbt.“ Wer versucht, sich dem Opfertod zu entziehen, wird vor den Augen der Kameraden in der Murellenschlucht gleich hinter der Waldbühne erschossen. Die Jugend fällt, Carl Diem aber bringt es 1947 zum Rektor der von ihm gegründeten Deutschen Sporthochschule in Köln.

Zurück auf dem Turm, über den eine erfrischende Brise streicht. Der zur Weltmeisterschaft 2006 installierte gläserne Fahrstuhl katapultiert einen so schnell in die Höhe, dass die Sinne erst nach und nach oben eintreffen. Nach dem Einmarsch der Roten Armee war glühende Hitze durch das Innere des Glockenturms geschossen. Das in seiner Basis eingelagerte Reichsfilmarchiv hatte Feuer gefangen, danach war der Turm nicht mehr standsicher und wurde 1947 gesprengt. Nach Werner Marchs Entwürfen entstand er von 1960 bis 1962 neu. Jetzt dringt von der Waldbühne Werkzeugklappern herauf, Roadies richten das Amphitheater für ein Konzert her. Im Reichssportfeld kam der damaligen Dietrich-Eckart-Bühne, benannt nach dem 1923 verstorbenen Publizisten, der Hitler erstmals als „Führer“ titulierte, die Aufgabe zu, 22 000 Besuchern NS-Weihespiele zu präsentieren. Nach dem Krieg unterlag Max Schmeling hier in seinem 70. und letzten Profikampf, 1965 sorgten die Rolling Stones für erhitzte Gemüter und eine längere Schließzeit der Waldbühne.

Aus der Höhe erscheinen die Sportler wie weiße Punkte

Von der anderen Seite wehen Lautsprecherdurchsagen aus dem Reitstadion herüber. Berliner Meisterschaften im Springreiten, mitten an einem Werktag, versteckt in einem Gelände, das als Olympiapark eines der aufregendsten Gelände Berlins ist – und erst noch in Gänze entdeckt werden will. Ebenso wie jene anderen Sportler, die aus der Höhe nur als weiße Punkte erscheinen. Seltsame Spielfelder sind für sie auf dem Maifeld markiert, undurchschaubar scheinen dem Nichteingeweihten die Regeln, nach denen der Platz eingenommen und wieder geräumt werden muss, endlos der Atem des Spielverlaufs.

Wieder auf Bodenniveau zurückgekehrt, erkennt man in den weißen Punkten die Cricket-Spieler des DSSC Berlin, die auf dem Maifeld trainieren. Wo NS-Massenaufmärsche bejubelt wurden, auf den Westwall genannten Stufen unweit vom „Stand des Führers“, haben ihre Angehörigen stärkenden Proviant ausgebreitet. Es duftet nach Curry – ganz ohne Wurst. Das Team der aktuellen Saison umfasst die Mitglieder Javeed Rana Iqbal (Kapitän), Imran Khan, Tariq Cheema, Shahnawaz Ahmad, Hassan-Ul Massoud, Imran Awad Chaudry, Ajithab Malviya, Sohail Mian, Farrukh Utmanzai, Yasin Muhammad, Salman Azhar, Atif Sharoon, Ali Raza Naqvi, Shahid Awan, Waqas Ahmed, Muhammad Imtiaz, Rafiqul Islam, Pratik Mohanty, Waris Rizwan, Farid Shah und Tausif Arshad. Der verlässliche Erfolg der Spieler spricht dafür, dass am 10. und 17. August wieder Finalspiele der Deutschen Vereinsmeisterschaft auf dem Maifeld ausgetragen werden. Zu Füßen des Glockenturms ist noch viel Platz für die Jugend der Welt.

Der Glockenturm ist bis 31. Oktober täglich von 9 bis 18 Uhr geöffnet. Eintritt: Erwachsene 4 €, Kinder 2 €.

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