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Kultur: Bilder vom Insektenstaat

Auf DVD: Fred Walthers Kultfilm „80 000 Shots“ über den Potsdamer Platz

Sein Laden befindet sich dort, wo die Kneipen „Bei Onkel“ heißen und die Wäschefirma sich „Dieter Milkan wäscht und reinigt“ nennt. Berlin-Neukölln, eine Seitenstraße gleich beim Rathaus. Hier ist der Fotoshop des Mannes, der es vor vier Jahren mit seinem Debütfilm bis auf die Berlinale geschafft hat. Und danach bis nach Australien und Neuseeland. „80 000 Shots“ besteht aus genau 80 000 Shots. Drehzeit: zehn Jahre. Einziger Drehort: Potsdamer Platz. Hauptdarsteller, Nebendarsteller, Komparsen: Potsdamer Platz. Schnittzeit: drei Jahre. Ab heute gibt es den Kultfilm auf DVD.

Es ist niemand da in Manfred Walthers Laden. Das ist in Ordnung, denn wer hier etwas will, hat normalerweise Zeit. Auch die wartende junge Frau mit Kind wird nicht ungeduldig. Fred ist bestimmt im Bioladen, vermutet sie. Fred muss der Regisseur sein. Sie duzt uns Mitwartende – das ist in Ordnung, denn wer hier wohnt, hat Förmlichkeiten nicht nötig. Und dann kommt er durch die Tür, eine Flasche Apfelsaft unterm Arm. Er hat eines jener Gesichter, die einen immerzu an jemanden erinnern, und man weiß nicht recht, an wen. Herman van Veen vielleicht? Die Frisur stimmt, und er hat die gleiche bedächtige, leise Art. Jede Reaktion wirkt leicht verzögert. Ein zeitgenössischer Hektiker ist das nicht. Dieser Mann hat einen völlig anderen Zeitbegriff. Er hat auch einen anderen Begriff davon, was wichtig ist im Leben. Sonst hätte er diesen Film nicht gemacht, von dem er erst nach acht Jahren wusste, dass es ein Film werden sollte.

Wir sitzen draußen vor dem Fotoshop „Asa90“. Nur förmliche Inhaber förmlicher Unternehmen stehen hinterm Ladentisch, wenn man auch mitten im Frühling Platz nehmen kann. Andreas Czeschka ist auch da. Czeschka ist der Komponist. Es gibt kein einziges Wort in diesem Film, nur Czeschkas Musik. Die trägt die Bilder. Eigentlich fing die Filmwerdung der vielen 16-mm-Rollen erst an, als Czeschka die ersten Aufnahmen gesehen und probeweise ein paar Takte daruntergelegt hatte. Musik zu einem Ameisenhaufen! Denn in Walthers Zeitraffer-Kino – zehn Jahre in 53 Minuten – wird die einst größte Baustelle der Welt zum Insektenstaat. Manche Bagger sehen aus wie Riesenmücken mit Stechrüssel. Ja, es ist eine Komödie geworden.

Czeschka ist Neuköllner von Geburt an wie Walther. Beide haben Neukölln nie für längere Zeit verlassen, höchstens, um in Schöneberg mal ein Haus zu besetzen. Czeschka und Walther sind der Meinung, dass das Leben viel zu kurz ist, um es mit Dingen zuzubringen, die man sich nicht selbst ausgesucht hat. Darum haben sie früher zusammen Punk gespielt. Darum gehen sie am Abend zu einer Badtaste-Party. Darum haben sie vor zwei Jahren in der eigenen Galerie „Raumausstatter“, gleich neben dem Fotoladen die Ausstellung „35 Jahre Mondlandung“ organisiert – mit viel unechtem Mondgestein, selbstgebauten Modulen und Space-Geräuschen (Jupiter-Orgel). Und darum machte Walther es sich 1990 zur Gewohnheit, mehrmals pro Woche für viele Stunden an den Potsdamer Platz zu fahren. Nur er und seine 16-mm-Kamera. Dort stand er dann, stundenlang. Wenn ein Lkw genau vor seiner Kamera parkte, packte er wieder ein, und alles war umsonst. Auf dem Dach des Musikinstrumenten-Museums und der Staatsbibliothek hatte er andere Feinde: dicke Regenwolken etwa, die sich kurz vor Schluss noch vor seinen Sonnenuntergang schoben. Die Verschiebung des Kaisersaals dauerte fünfeinhalb Stunden – im Film sind es 23 Sekunden. ICE-Tempo.

Walthers Ausflüge galten auch deshalb als exzentrisch, weil er gerade diesen alten Fotoladen übernommen hatte, den es seit 1930 gibt und der aussah, als habe seitdem keiner etwas weggeschmissen. Inzwischen sieht er wieder so aus. Eine Frau kommt und will wissen, ob sie ihre Kamera zur Reparatur bei ihm gelassen habe. Der Berlinale-Kultfilm-Regisseur Fred nickt und sagt dann einen Satz, den er nur in allergrößten Ausnahmesituationen spricht: „Kann man nur noch wegschmeißen.“ Denn Walther repariert alles, was ein Objektiv besitzt. Im Schaufenster steht ein kleiner Monitor, dort läuft seit Dezember sein Film.

Manchmal schaut er hin, als sehe er ihn zum ersten Mal. Mit Wohlgefallen. Seine Van-Veen-Frisur weht im Frühlingswind. Es ist der Film seines Lebens.

Aufführung heute 20 Uhr im Filmkunsthaus Babylon, Rosa-Luxemburg-Str. 30; DVD zu beziehen über ASA90: www.80000SHOTS.net

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